»In einer Sekunde. Achte auf Jeff!«
Piggot-Blaines dichtbehaarte Brust wölbte sich erwartungsvoll. Er strich eine dünne braune Haarsträhne aus dem Gesicht und beobachtete Jeff, der fünf Männer weiter an der Kette stand. Piggot-Blaine wartete, und seine Schultern schmerzten vom Sonnenbrand. An seinen Fußknöcheln waren entzündete Narben von den Fußeisen, und auf seinem Rücken waren Striemen von früheren Peitschenhieben. Er verspürte einen brennenden Durst. Doch kein Eimer Wasser konnte diesen Durst jemals löschen, diesen verrückten Durst, der ihn hierher gebracht hatte, nachdem er Gainsvilles einzigen Saloon auseinandergenommen und diesen stinkenden alten Indianer getötet hatte.
Jeffs Hand bewegte sich. Die Reihe der angeketteten Gefangenen sprang vor. Piggot-Blaine stürzte auf den Wächter mit dem hageren Gesicht, seinen Pickel hocherhoben, da ließ der Wächter die Peitsche fallen und hob das Schrotgewehr.
»Geierspeise!« schrie Piggot-Blaine und schlug den Pickel mitten in die Stirn des Wächters.
»Hol die Schlüssel!«
Piggot-Blaine ergriff die Schlüssel, die von dem Gürtel des toten Wächters herabhingen. Er hörte ein Schrotgewehr, das abgefeuert wurde, und einen grellen Schmerzensschrei. Besorgt blickte er hoch …
*
Ramirez-Blaine steuerte seinen Heli über die flachen Ebenen von Texas, mit Kurs auf El Paso. Er war ein ernster junger Mann, und er widmete sich sehr aufmerksam seiner Arbeit, als er den letzten Knoten Geschwindigkeit aus dem alten Heli herausholte, um El Paso zu erreichen, bevor Johnsons Metallwarenladen zumachte.
Er ging sorgfältig mit der alten Klapperkiste um, und nur wenige Male drangen Gedanken in seine Konzentration ein, flüchtige Gedanken über Höhe und Kompaßdaten, über einen Tanzabend in Guanajuato, nächste Woche, über den Preis für Felle in Ciudad Juarez.
Die Ebene war grün gefleckt und gelb, als er hinunterblickte. Er blickte auf die Uhr, dann auf den Geschwindigkeitsmesser.
Ja, dachte Ramirez-Blaine, er mußte in El Paso sein, bevor der Metallwarenladen zumachte! Dann hätte er eventuell sogar noch Zeit um …
*
Tyler-Blaine wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und leckte den letzten fetten Soßenrest von einem Stück Maisbrot. Er rülpste, rückte seinen Stuhl vom Küchentisch und stand auf. Mit einstudiertem Desinteresse nahm er eine zersprungene Schüssel aus der Speisekammer und füllte sie mit Schweinefleischstückchen, ein bißchen Gemüse und einem großen Stück Maisbrot.
»Ed«, fragte seine Frau, »was machst du da?«
Tyler-Blaine blickte sie verärgert an und spürte, wie sein Magengeschwür stärker schmerzte, als er diese schrille, besorgte Stimme hörte. Die schrillste Stimme in ganz Kalifornien, sagte er zu sich selbst, und ich habe sie geheiratet. Schrille Stimme, scharfe Nase, spitze Ellenbogen und Knie, brustlos und durch und durch unfruchtbar. Beine, die einen Körper mal eben tragen aber nicht für eine Sekunde Lust spenden. Ein Bauch, der gefüllt, aber nicht berührt werden will. Von allen Mädchen Kaliforniens hatte er ganz zweifellos das allererbärmlichste gewählt, ganz der verdammte Narr, für den ihn Onkel Rafe ja schon immer gehalten hatte.
»Wohin gehst’n mit der Schüssel?« fragte sie.
»Raus, den Hund füttern«, sagte Tyler-Blaine und schritt auf die Tür zu.
»Wir haben keinen Hund! Oh Ed, tu’s nicht, nicht heute abend!«
»Ich tu’s«, sagte er und freute sich über ihre Beunruhigung.
»Bitte nicht heute abend. Laß ihn sich doch woandershin schleppen, wenigstens für eine Weile. Ed, hör mir zu! Was, wenn man es in der Stadt merkt?«
»Die Sonne ist schon untergegangen«, sagte Tyler-Blaine, der mit seiner Eßschüssel neben der Tür stand.
»Die Leute spionieren doch rum«, sagte sie. »Ed, wenn sie dahinterkommen, werden sie uns lynchen, das weißt du!«
»Sähst bestimmt reichlich klapprig aus, wenn du von einem Strick herunterhängen würdest«, meinte Tyler-Blaine und öffnete die Tür.
»Du würdest es schon tun, nur um mich zu ärgern!« rief sie.
Er schloß die Tür hinter sich. Draußen herrschte volles Zwielicht. Tyler-Blaine stand im Hof neben dem unbenutzten Hühnerkäfig und blickte sich um. Das einzige Haus in der Nähe war das von den Flannagans, einhundert Yards entfernt. Aber die kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Er wartete, um sicherzugehen, daß keins von den Stadtkindern herumschnüffelte. Dann schritt er vor, wobei er die Schüssel vorsichtig in beiden Händen hielt.
Er kam an den Rand des spärlichen Walds und stellte die Schüssel ab. »Ist alles in Ordnung«, rief er leise. »Komm raus, Onkel Rafe.«
Ein Mann krabbelte auf allen Vieren aus dem Wald. Sein Gesicht war bleifarben, seine Lippen blutlos, seine Augen leer und starr, seine Gesichtszüge grob und unbehauen, wie Eisen vor dem Schmieden oder Ton vor dem Brennen. Eine lange Schnittwunde am Hals hatte sich entzündet, und sein rechtes Bein war an der Stelle, wo die Leute aus der Stadt es zerschlagen hatten, lahm und hing schlaff und nutzlos herab.
»Danke, Junge«, sagte Rafe, Tyler-Blaines Zombieonkel.
Der Zombie verschlang hastig den Inhalt der Schüssel. Als er fertig war, fragte Tyler-Blaine: »Wie fühlst du dich, Onkel Rafe?«
»Hab gar kein Gefühl. Dieser alte Körper hat es bald hinter sich. Noch ’n paar Tage, vielleicht ’ne Woche, dann häng ich euch nicht mehr auf der Pelle.«
»Ich werd für dich sorgen«, sagte Tyler-Blaine, »solange du noch lebst, Onkel Rafe. Ich wünschte, ich könnte dich ins Haus lassen.«
»Nein«, sagte der Zombie, »dann kriegen Sie’s raus. Ist so schon riskant genug … Junge, wie geht’s deiner dürren Frau?«
»Iss genauso gemein wie immer«, sagte Tyler-Blaine.
Der Zombie machte ein Geräusch, das wie Lachen klang. »Ich hab dich gewarnt, Junge, schon vor zehn Jahren, dieses Mädchen nicht zu heiraten. Hab ich’s nicht?«
»Klar, das hast du, Onkel Rafe. Warst der einzige, der vernünftig war. Wünschte, ich hätte auf dich gehört.«
»Härteste man, mein Junge! Na ja, ich geh zurück in mein Versteck.«
»Bist dir sicher, Onkel?« fragte Tyler-Blaine besorgt.
»Allerdings.«
»Und du willst versuchen, genauso sicher zu sterben?«
»Werd ich, Junge. Und ich komm schon an die Schwelle, verlaß dich drauf! Und wenn ich da bin, dann halte ich mein Versprechen. Ganz bestimmt!«
»Danke, Onkel Rafe.«
»Bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Junge, ich werd sie heimsuchen, wenn der Herr mich an die Schwelle läßt. Erst kommt dieser fette Doktor an die Reihe, der mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Aber dann bespuke ich sie. Ich bespuke sie, bis sie verrückt wird. Ich bespuke sie, bis sie durch ganz Kalifornien zu Fuß vor dir wegrennt.«
»Danke, Onkel Rafe.«
Der Zombie gab ein gelächterähnliches Geräusch von sich und kroch zurück in den dünnen Wald. Tyler-Blaine erschauerte einen Augenblick lang völlig unkontrolliert, dann nahm er die leere Schüssel auf und ging zurück zu dem eingewölbten Waschbretthaus.
*
Mariner-Blaine zog den Riemen ihres Badeanzugs straffer, so daß er sich enger an ihren schlanken, üppigen jungen Körper anschmiegte. Sie hängte sich den Lufttank auf den Rücken, nahm ihr Atemgerät auf und schritt auf die Druckluke zu.
»Janice?«
»Ja, Mutter?« fragte sie und drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht um.
»Wohin gehst du, Liebes?«
»Nur mal eben schwimmen, Mami. Hab mir gedacht, ich könnte mir mal die neuen Gärten auf Level 12 anschauen.«
»Du hast doch wohl nicht etwa vor, dich mit Tom Leuwin zu treffen, oder?«
Hatte ihre Mutter es erraten? Mariner-Blaine strich sich ihr schwarzes Haar glatt und antwortete: »Ganz bestimmt nicht.«
»Na gut«, sagte ihre Mutter und lächelte schief. Offenbar glaubte sie ihr nicht. »Dann sei früh wieder da, Liebes. Du weißt ja, wie leicht dein Vater sich Sorgen macht.«
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