Sie beugte sich vor und gab ihrer Mutter einen hastigen Kuß, dann eilte sie in die Druckschleuse. Mutter wußte es, da war sie sich sicher! Und sie hielt sie nicht auf! Aber warum sollte sie auch? Schließlich war sie schon siebzehn, alt genug um zu wissen, was sie wollte. Heutzutage wurden die Kinder eben schneller erwachsen als zu Mamis Zeiten, auch wenn die Eltern das nicht immer begreifen wollten. Aber Eltern begriffen ja sowieso nicht viel. Die wollten ja immer nur herumsitzen und neues Farmland planen, hektarweise. Wenn die sich vergnügen wollten, dann spielten sie irgendeine klassische Aufnahme ab, ein Stück Bop oder Rock’n’Roll. Und redeten dann darüber, wie frei und expressionistisch ihre Vorfahren waren. Und manchmal sahen sie sich große, glänzende Kunstbücher an, die mit Reproduktionen von Comic Strips des zwanzigsten Jahrhunderts angefüllt waren und sprachen über die in Vergessenheit geratene Kunst der Satire. Wenn die sich mal einen tollen Abend machen wollten, dann gingen sie in die Galerie und starrten voller Bewunderung auf die Sammlung der Titelseiten der Saturday Evening Post aus der Großen Periode. Aber dieses ganze langweilige Zeug langweilte sie nur. Zum Teufel mit der Kunst, sie zog die Sensorien vor.
Mariner-Blaine rückte ihre Gesichtsmaske und das Atemgerät zurecht, legte die Schwimmflossen an und drehte am Ventil. Wenige Sekunden später war die Schleuse voller Wasser. Sie wartete ungeduldig, bis sich der Druck dem Außendruck angeglichen hatte. Dann öffnete sich die Schleuse automatisch und sie schoß heraus.
Die Druckfarm ihres Vaters war auf dem Hundert-Fuß-Level, nicht weit von dem mammutartigen Unterseeblock von Hawaii. Sie wandte sich nach unten und sank mit kräftigen, schnellen Schwimmzügen in die grüne Tiefe. Tom würde bei den Korallenhöhlen auf sie warten.
Als Mariner-Blaine tiefer sank, wurde es dunkler. Sie stellte ihren Kopfscheinwerfer an und biß fester in ihr Mundstück. Stimmte es wohl, dachte sie, daß die Unterwasserfarmer bald dazu in der Lage sein würden, eigene Kiemen zu entwickeln? Das hatte ihr Biologielehrer behauptet, und vielleicht würde das noch zu ihren Lebzeiten geschehen. Wie sie wohl mit Kiemen aussehen würde? Geheimnisvoll, wahrscheinlich, glatt und seltsam, eine Fischgöttin.
Außerdem konnte sie sie immer noch mit Haar bedecken, wenn sie ihr nicht stehen sollten.
Im gelben Licht ihres Scheinwerfers sah sie vor sich die Korallenhöhlen, ein rotes und rosa Labyrinth voller Verästelungen, mit gemütlichen, luftdichten Stellen in seinem Inneren, wo man sicher sein konnte, allein zu bleiben. Und dann sah sie Tom.
Unsicherheit durchflutete sie. O weh, was, wenn sie schwanger würde? Tom hatte ihr versichert, daß schon alles in Ordnung sein würde, aber er war ja auch erst neunzehn. War es richtig, das zu tun? Sie hatten oft genug darüber geredet, und sie hatte ihn mit ihrer Offenheit schockiert. Aber Reden und Handeln waren zweierlei Dinge. Was würde Tom von ihr denken, wenn sie nein sagte? Könnte sie einen Spaß daraus machen, so tun, als habe sie ihn nur an der Nase herumführen wollen?
Lang und golden schwamm Tom neben ihr auf die Höhlen zu. Er sagte ›hallo‹ in der Fingersprache. Ein Hornfisch schwamm vorbei und dann auch ein kleiner Hai.
Was sollte sie tun? Die Höhlen waren schon sehr nah, lagen dunkel und einladend vor ihnen. Tom lächelte sie an, und sie spürte, wie ihr Herz zu schmelzen begann …
*
Elgin-Blaine saß aufrecht da und erkannte, daß er wohl gerade eingedöst war. Er befand sich an Bord eines kleinen Motorboots, auf einem Liegestuhl in Decken eingehüllt. Das kleine Schiff rollte und schlingerte in der Gegensee, aber die Sonne schien hell, und der Passat trug den Dieselqualm in einer breiten dunklen Wolke davon.
»Fühlen Sie sich besser, Mr. Elgin?«
Elgin-Blaine blickte zu dem kleinen bärtigen Mann mit der Kapitänsmütze hoch. »Prima, ganz prima«, sagte er.
»Wir sind fast da«, sagte der Kapitän.
Elgin-Blaine nickte desorientiert und versuchte, Bestandsaufnahme zu machen. Er dachte angestrengt nach und erinnerte sich daran, daß er unterdurchschnittlich klein war, sehr muskulös mit breitem Brustkasten und Schultern, mit Beinen, die für einen solch herkulischen Torso ein bißchen zu kurz schienen, mit großen, schwieligen Händen. Auf seiner Schulter befand sich eine alte, zackige Narbe, die Erinnerung an einen Jagdunfall …
Elgin und Blaine verschmolzen miteinander.
Dann wurde ihm klar, daß er endlich wieder in seinem eigenen Körper war. Blaine war sein Name, und Elgin mußte das Pseudonym sein, unter dem Carl Orc und Joe ihn eingeschifft haben mußten.
Der lange Flug war vorbei! Sein Geist und sein Körper waren wieder zusammen!
»Man hat uns gesagt, daß es Ihnen nicht gut ginge, Sir«, sagte der Kapitän. »Aber Sie waren ja so lange in diesem Koma …«
»Jetzt geht’s mir gut«, sagte Blaine. »Sind wir noch weit von den Marquesas?«
»Nicht weit. Die Insel Nuku Hiva ist nur noch ein paar Stunden entfernt.«
Der Kapitän ging zurück zu seinem Steuerhaus; und Blaine dachte über die vielen Persönlichkeiten nach, denen er begegnet war und mit denen er sich vermischt hatte.
Er empfand Respekt für den aufrechten und unabhängigen alten Dyersen, der langsam in seine Hütte zurückging, hoffte, daß der junge Sandy Thompson zum Mars zurückkehren würde, bemitleidete den durchgedrehten und mörderischen Piggot, genoß seine Begegnung mit dem ernsten und offenen Juan Ramirez, empfand ein Gemisch von Mitleid und Verachtung für den hinterlistigen und erfolglosen Ed Tyler, wünschte Janice Mariner das Beste.
Sie waren immer noch bei ihm. Ob gut oder böse, er wünschte ihnen alles Gute. Sie waren jetzt seine Familie. Entfernte Verwandte, Cousins und Onkel, die er nie wiedertreffen würde, Nichten und Neffen, über deren Schicksal er nachdenken würde.
Wie alle Familien waren auch sie ein zusammengewürfelter Haufen; aber sie gehörten zu ihm, und er würde sie nie vergessen.
»Nuku Hiva ahoi!« rief der Kapitän.
Blaine erblickte am Rande des Horizonts einen winzigen schwarzen Fleck, über dem eine weiße Kumuluswolke schwebte. Er rieb sich entschlossen seine Stirn und nahm sich vor, nicht länger über seine adoptierte Familie nachzudenken. Er mußte sich mit den Realitäten der Gegenwart auseinandersetzen. Bald würde er in ein neues Zuhause kommen, und das bedurfte eines gründlichen Nachdenkens.
Das Schiff dampfte gemächlich in die Bucht von Taio Hae. Der Kapitän, ein stolzer Sohn der Inseln, war so frei, Blaine das Wichtigste über seine neue Heimat zu erklären.
Die Marquesa-Inseln, erzählte er, bestanden aus zwei, leicht unterschiedlichen Inselgruppen, alle bergig und zerklüftet. Eine der Gruppen war die Kannibaleninsel genannt worden, denn die Marquesaner besaßen einst eine gewisse Berühmtheit für Massaker an den Besatzungen von Handels- und Forschungsschiffen. Die Franzosen hatten die Inseln 1842 in ihren Besitz gebracht und ihnen 1993 die Unabhängigkeit gegeben. Ihr höchster Gipfel, Temetiu, war fast 1500 Meter hoch. Die Hafenstadt Taiohae rühmte sich einer Bevölkerung von fast fünftausend Seelen. Es sei ein stiller, gemütlicher Flecken, meinte der Kapitän, und inmitten der geschäftigen, überbevölkerten Südsee gelte es als eine Art Schrein der Ruhe. Denn hier war das letzte Überbleibsel vom Polynesien des unverdorbenen 20. Jahrhunderts.
Blaine nickte, ohne viel vom Vortrag des Kapitäns mitbekommen zu haben. Ihn beeindruckte im Augenblick mehr der Anblick des großen dunklen Bergrückens vor ihnen, der von silbernen Wasserfällen geschmückt war, und das Tosen der Brandung gegen das granitene Felsengeschicht der Insel.
Er entschied, daß es ihm hier gefallen würde.
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