»Wo werde ich hinauskommen?« fragte Blaine.
»Ich habe einen unbenutzten U-Bahnausgang an der westlichen 79. Straße ausgesucht«, sagte Mr. Kean. »Von dort aus sollten Sie eigentlich einen guten Start haben. Und ich habe noch etwas getan, was ich vielleicht hätte unterlassen sollen.«
»Was denn?«
»Ich habe jemanden kontaktiert, den Sie kennen. Die Person wartet am Ausgang auf Sie. Aber bitte sagen Sie niemandem etwas davon. Und jetzt müssen wir uns beeilen.«
Mr. Kean führte die Prozession durch das verschlungene Labyrinth des Untergrunds, und Blaine schritt am Ende. Sein Kopfschmerz ließ langsam nach. Schon bald kamen sie an eine Betontreppe und blieben stehen.
»Hier ist der Ausgang«, sagte Kean. »Viel Glück, Blaine!«
»Danke«, sagte Blaine. »Und Smith – vielen Dank.«
»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Smith. »Wenn Sie sterben sollten, werde ich wohl auch sterben. Wenn Sie überleben, dann will ich versuchen, mich wiederzuerinnern.«
»Und wenn Sie sich erinnern sollten?«
»Dann werde ich kommen und Sie aufsuchen«, sagte Smith.
Blaine nickte und stieg die Treppe hoch.
*
Draußen war tiefe Nacht, und die 79. Straße schien leer zu sein. Blaine stand am Ausgang, blickte um sich und überlegte, was er tun sollte.
»Blaine!«
Jemand rief nach ihm. Aber es war nicht Marie, wie er erwartet hatte, sondern die Stimme eines Mannes, den er kannte – vielleicht Sammy Jones oder Theseus.
Er wandte sich eilig um und lief zu dem U-Bahnausgang. Er war verschlossen und fest verriegelt.
»Tom, Tom, ich bin es!«
»Ray?«
»Natürlich! Sprich leise. Nicht weit entfernt von hier sind Jäger. Warte mal.«
Blaine kauerte sich neben den verschlossenen U-Bahneingang zusammen, blickte um sich und wartete. Er konnte keine Spur von Melhill entdecken. Es war kein ektoplasmischer Nebel zu sehen, nur eine flüsternde Stimme war zu hören.
»O.K.«, sagte Melhill. »Jetzt geh Richtung Westen. Schnell!«
Blaine schritt los. Er spürte Melhills unsichtbare Gegenwart, die neben ihm schwebte. Er fragte: »Ray, wie kommt das?«
»Ist ja langsam mal Zeit, daß ich dir behilflich bin«, sagte Melhill. »Dieser alte Kean hat deine Freundin benachrichtigt, und sie hat sich mit mir über die Geistervermittlung in Verbindung gesetzt. Warte! Bleib hier stehen!«
Blaine duckte sich hinter eine Gebäudeecke. Langsam flog ein Heli in Dachhöhe vorüber.
»Jäger«, sagte Melhill. »Junge, heute ist dein großer Tag! Man hat eine Belohnung ausgesetzt. Sogar für Hinweise, die zu deiner Ergreifung führen. Tom, ich habe Marie gesagt, daß sie versuchen sollte, dir zu helfen. Ich weiß nicht, wie lange ich das hier kann. Es laugt mich aus. Danach muß ich ins Jenseits.«
»Ray, ich weiß gar nicht, wie ich dir -«
»Hör auf damit. Hör mal, Tom, ich kann nicht viel reden. Marie hat ein paar Freunde dazu bewogen, dir behilflich zu sein. Wenn ich dich zu ihnen bringen kann, dann haben sie einen Plan. Stop!«
Blaine blieb stehen und versteckte sich hinter einem Briefkasten. Lange Sekunden verstrichen. Dann eilten drei Jäger vorbei, die Seitenwaffen griffbereit. Nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, konnte Blaine weitergehen.
»Du hast vielleicht Augen!« sagte er zu Melhill.
»Die Sicht hier oben ist ziemlich gut«, antwortete Melhill. »Schnell über diese Straße!«
Blaine machte einen Sprint. Die nächsten fünfzehn Minuten folgte er nach Melhills Anleitungen den gebogenen Straßen, schritt auf dem Schlachtfeld der Stadt vor und machte wieder Rückzüge.
»Hier ist es«, sagte Melhill schließlich. »Die Tür da drüben, Nummer 341. Du hast es geschafft! Tschüß, Tom! Paß auf, daß -«
In diesem Augenblick kamen zwei Männer um eine Ecke, blieben stehen und starrten Blaine an. Einer von ihnen sagte: »He, das ist doch der Bursche!«
»Welcher Bursche?«
»Auf den die Belohnung ausgesetzt ist. He, Sie!«
Sie stürzten vor. Blaine schlug den ersten Mann schnell bewußtlos. Er wirbelte herum, um den zweiten Mann anzugehen, doch Melhill hatte die Situation schon voll unter Kontrolle.
Der zweite Mann hatte die Arme um den Kopf gelegt und versuchte sich zu schützen. Ein Mülleimerdeckel, der auf mysteriöse Weise in der Luft schwebte, prügelte ihn wütend um die Ohren. Blaine schritt vor und erledigte den Mann auch noch.
»Macht verdammt viel Spaß«, sagte Melhill mit schwächer werdender Stimme. »Wollte immer schon mal Gespenst spielen. Aber das kostet Energie … Viel Glück, Tom!«
»Ray!« Blaine wartete, aber er erhielt keine Antwort, und das Gefühl van Melhills Gegenwart war verschwunden.
Blaine wartete nicht länger. Er lief zu Nummer 341 hinüber, öffnete die Tür und trat ein.
Er befand sich in einer engen Eingangshalle. Am Ende des Ganges war eine Tür. Blaine klopfte an.
»Herein!« sagte jemand.
Er öffnete die Tür und trat in einen kleinen, schäbigen Raum, der dicht verhangen war.
Blaine hätte gedacht, daß er mittlerweile vor weiteren Überraschungen sicher wäre. Aber er zuckte unwillkürlich zusammen, als er Carl Orc, den Körperräuber, erblickte, der ihn angrinste. Und neben ihm saß, ebenfalls grinsend, Joe, der kleine Transplantationshändler.
Blaine bewegte sich wie instinktiv wieder in Richtung Tür, aber Orc winkte ihm zu, zu bleiben. Der Körperräuber war unverändert, immer noch sehr groß und schlank, sein Gesicht trug immer noch einen langen, trauernden Ausdruck, seine Augen waren immer noch eng geschlitzt und blickten offen und ehrlich. Seine Kleider hingen etwas schlampig an ihm herunter, als wäre er es mehr gewöhnt, Jeans zu tragen als maßgeschneiderte Hosen.
»Wir haben Sie erwartet«, sagte Orc. »Sie erinnern sich wohl noch an Joe?«
Blaine nickte und erinnerte sich an den kleinen Mann mit dem verschlagenen Blick, der ihn abgelenkt hatte, damit Orc seinen Drink vergiften konnte.
»Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte Joe.
»Darauf gehe ich jede Wette ein«, sagte Blaine und blieb an der Tür stehen.
»Kommen Sie rein und setzen Sie sich«, sagte Orc. »Wir werden Sie schon nicht auffressen, Tom. Ehrlich nicht. Lassen wir die Toten ruhen, hehe.«
»Sie haben versucht, mich umzubringen.«
»Das war Geschäft«, sagte Orc offen heraus. »Jetzt stehen wir auf derselben Seite.«
»Und wieso sollte ich das glauben?«
»Niemand«, erklärte Orc, »hat jemals meine Ehrlichkeit bezweifelt. Nicht, wenn ich wirklich ehrlich gewesen bin, so wie jetzt. Miss Thorne hat uns eingestellt, um Sie sicher aus dem Land zu schaffen, und das werden wir auch tun. Setzen Sie sich und lassen Sie uns darüber reden. Haben Sie Hunger?«
Zögernd setzte Blaine sich hin. Auf einem Tisch standen Sandwiches und eine Flasche Rotwein. Er merkte plötzlich, daß er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Er fing an, die Sandwiches herunterzuschlingen, während Orc sich eine dünne braune Zigarre anzündete und Joe scheinbar vor sich hin döste.
»Wissen Sie«, sagte Orc und blies blauen Dunst aus, »fast hätte ich diesen Job nicht angenommen. Nicht, daß die Bezahlung nicht gestimmt hätte; ich glaube, Miss Thorne war mehr als großzügig. Aber Tom, dies ist eine der größten Menschenjagden, die in unserer Stadt seit langem stattgefunden hat. Hast du schon einmal etwas Derartiges miterlebt, Joe?«
»Noch nie«, sagte Joe und wackelte schnell mit dem Kopf. »Die Stadt ist voll wie Fliegenpapier.«
»Rex will Sie wirklich haben«, sagte Orc. »Sie haben es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, Ihren Korpus festzunageln, wo sie ihm auch begegnen mögen. Macht einen nervös, es mit solch einer großen Organisation aufnehmen zu müssen. Aber es ist eine Herausforderung, eine richtig große Herausforderung.«
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