Mit traumwandlerischer Klarheit sah er, wie die Jäger näherkamen. Theseus dicht hinter ihm, der andere Jäger noch weiter entfernt und den Fluchtweg nach vorn blockierend. Blaine lief mit bleischweren Füßen auf den entfernteren Mann zu, über Gullilöcher und U-Bahngitter, an verrammelten Fenstern und verriegelten Gebäuden vorbei.
»Deckung, Theseus!« rief der Jäger. »Ich hab ihn!«
»Hol ihn dir, Hendrick!« rief Theseus zurück und lehnte sich flach an eine Wand, aus der Schußlinie des Strahls.
Der Pistolenschütze, der noch fünfzig Fuß entfernt war, zielte und schoß. Blaine ließ sich zu Boden fallen, und der Strahl verfehlte sein Ziel. Er rollte zur Seite und versuchte, hinter der ungenügenden Deckung eines Hauseingangs Schutz zu finden. Der Strahl sengte ihm hinterher, kratzte über Beton und verwandelte Abwasserpfützen in Dampf.
Dann gab ein U-Bahngitter unter ihm nach.
Während er hinabstürzte wurde ihm klar, daß das Gitter von dem Strahl gelockert worden sein mußte. Was für ein Glück! Aber er mußte mit den Füßen zuerst aufkommen. Er mußte bei Bewußtsein bleiben, sich von der Öffnung fortschleppen, etwas aus seinem Glück machen. Wenn er das Bewußtsein verlieren sollte, dann würde sein Körper in voller Schußlinie liegen, ein leichtes Ziel für die Jäger oben am Rand der Öffnung.
Er versuchte, sich im freien Fall umzudrehen, doch zu spät. Er schlug hart mit den Schultern auf, und sein Kopf krachte gegen eine eiserne Runge. Doch die Notwendigkeit, bei Bewußtsein zu bleiben war so stark, daß er sich auf die Beine hochrappelte. Er mußte sich aus dem Schußfeld schleppen, weiter in den U-Bahnschacht hinein, damit sie ihn nicht sehen würden. Doch selbst der erste Schritt war schon zuviel. Erschöpft gaben seine Beine unter ihm nach. Er fiel mit dem Gesicht nach unten, rollte sich mit letzter Kraft herum und starrte zu der Schachtöffnung über ihm hoch.
Dann wurde er ohnmächtig.
Als er wieder aufwachte, entschied er, daß er das Jenseits nicht sonderlich mochte. Es war finster und klumpig und stank nach Öl und Schliere. Außerdem tat ihm der Kopf weh, und sein Kreuz fühlte sich so an, als sei es an drei verschiedenen Stellen gebrochen.
Konnte ein Geist Schmerz empfinden? Blaine bewegte sich und stellte fest, daß er immer noch einen Körper hatte. Wenn man es ganz genau nahm, dann war er überhaupt nur noch Körper, jedenfalls fühlte er sich so. Offensichtlich war er gar nicht im Jenseits.
»Bleiben Sie noch einen Augenblick still liegen«, sagte eine Stimme.
»Wer ist da?« fragte Blaine in das undurchdringliche Dunkel hinein.
»Smith.«
»Ach so. Sie.« Blaine setzte sich auf und hielt sich seinen pulsierenden Kopf fest.
»Wie haben Sie das gemacht, Smith?«
»Beinahe gar nicht«, antwortete der Zombie. »Sobald Sie zum Opfer erklärt worden waren, bin ich gekommen, um nach Ihnen zu sehen. Einige meiner Freunde hier unten haben sich angeboten, mir behilflich zu sein, aber Sie sind einfach zu schnell gerannt. Ich habe Ihnen nachgerufen, als Sie aus dem Pfandleihhaus kamen.«
»Ich dachte mir doch, daß ich eine Stimme gehört hätte«, sagte Blaine.
»Wenn Sie sich umgedreht hätten, hätten wir Sie schon dann reingeholt. Aber das haben Sie nicht getan, also mußten wir Ihnen folgen. Wir haben einige Male Baugruben und U-Bahnroste für Sie aufgehalten aber es war schwierig, den Zeitpunkt genau abzuschätzen. Wir kamen jedesmal ein bißchen zu spät.«
»Aber nicht das letzte Mal«, sagte Blaine.
»Zum Schluß mußte ich direkt unter Ihnen ein Gitter öffnen. Es tut mir leid, daß Sie sich den Kopf gestoßen haben.«
»Wo bin ich hier?«
»Ich habe Sie aus dem Hauptgang gezerrt«, sagte Smith. »Sie sind in einem Nebengang. Die Jäger werden Sie hier nicht finden.«
Blaine konnte wieder einmal nicht die richtigen Worte finden, um Smith zu danken. Und wieder einmal wollte Smith keinen Dank.
»Ich tue es nicht für Sie, Blaine. Es ist für mich. Ich brauche Sie.«
»Wissen Sie inzwischen warum?«
»Noch nicht«, sagte Smith.
Blaines Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte den Umriß des Rumpfs des Zombies erkennen. »Was jetzt?« fragte er.
»Jetzt sind Sie in Sicherheit. Wir können Sie unterirdisch bis nach New Jersey bringen. Von dort aus kommen Sie dann allein weiter. Aber ich schätze nicht, daß Sie dann noch viel Ärger haben dürften.«
»Und worauf warten wir dann jetzt noch?«
»Auf Mr. Kean. Ich brauche seine Genehmigung, um Sie durch die Gänge zu führen.«
Sie warteten. Einige Minuten später sah Blaine Mr. Keans hageren Umriß, der sich auf den Neger stützte und auf ihn zukam.
»Tut mir leid, daß Sie Schwierigkeiten haben«, sagte Kean und setzte sich neben Blaine. »Ist ein Jammer.«
»Mr. Kean«, sagte Smith, »wenn ich von Ihnen die Erlaubnis bekommen könnte, ihn durch den alten Holland-Tunnel nach New Jersey zu bringen -«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Kean, »aber das kann ich nicht gestatten.«
Blaine blickte um sich und merkte, daß er von einem Dutzend zerlumpter Zombies umgeben war.
»Ich habe mit den Jägern gesprochen«, sagte Kean, »und habe ihnen mein Wort gegeben, daß Sie innerhalb der nächsten halben Stunde wieder oben auf den Straßen sein werden. Sie müssen jetzt gehen, Blaine.«
»Aber warum das?«
»Wir können es uns einfach nicht erlauben, Ihnen zu helfen«, sagte Kean. »Ich bin schon beim ersten Mal ein ungewöhnliches Risiko eingegangen, als ich Ihnen gestattet habe, Reillys Grabmal zu schänden. Aber ich habe es für Smith getan, dessen Schicksal ja irgendwie mit dem Ihren verknüpft zu sein scheint. Und Smith gehört zu meinen Leuten. Aber das jetzt ist einfach zu viel. Sie wissen ja, daß man uns hier in unserer unterirdischen Behausung lediglich duldet.«
»Das weiß ich«, sagte Blaine.
»Smith hätte an die Folgen denken müssen. Als er dieses Gitter für Sie öffnete, sind die Jäger hereingeströmt. Sie haben Sie nicht gefunden, aber sie wußten, daß Sie irgendwo hier unten sein mußten. Also haben sie gesucht und gesucht. Und wie sie gesucht haben! Dutzende von ihnen, die unsere Gänge durchforsteten, unsere Leute herumschubsten, Drohungen ausstießen, brüllten, in ihre kleinen Funkgeräte sprachen. Reporter sind auch dagewesen und sogar unbeteiligte Zuschauer. Da sind ein paar von den jüngeren Jägern nervös geworden und haben angefangen, auf die Zombies zu schießen.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte Blaine.
»Es war nicht Ihre Schuld. Aber Smith hätte es besser wissen müssen. Die Welt des Untergrunds ist kein souveränes Königreich. Wir existieren hier nur, weil man uns hier duldet, mit Hilfe einer Toleranz, die jederzeit widerrufen werden kann. Also habe ich mit den Jägern und Reportern gesprochen.«
»Was haben Sie ihnen gesagt?« fragte Blaine.
»Ich habe ihnen gesagt, daß ein defektes Gitter unter Ihnen nachgegeben hätte und habe behauptet, daß Sie durch Zufall hereingekommen seien und fortgekrochen wären. Ich habe ihnen versichert, daß kein Zombie daran beteiligt gewesen sei. Und daß wir Sie gefunden hätten und Sie binnen einer halben Stunde wieder hoch an die Erdoberfläche auf die Straße bringen würden. Sie nahmen mein Wort an und sind verschwunden. Ich wünschte, ich hätte anders handeln können.«
»Ich kann es Ihnen nicht verdenken«, sagte Blaine und erhob sich mühselig.
»Ich habe ihnen nicht gesagt, wo Sie wieder hinauskommen werden«, fuhr Kean fort. »So haben Sie wenigstens eine wohl noch größere Chance als vorher. Ich wünschte, ich hätte mehr für Sie tun können, aber ich kann es nicht zulassen, daß der Untergrund ein Schauplatz für Jagden wird. Wir müssen neutral bleiben, dürfen niemanden verärgern, niemanden erschrecken. Nur so wird es uns gelingen, solange zu überleben bis ein aufgeklärteres Zeitalter angebrochen ist.«
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