»Erzähl es mir.«
»Na ja, es gibt da drei Möglichkeiten, wenn ein Mensch stirbt. Erstens kann sein Geist einfach explodieren, sich verteilen, auflösen, das ist dann das Ende. Zweitens kann sein Geist auch das Todestrauma überleben, zusammenbleiben, dann findet er sich an der Schwelle wieder, als Geist eben. Ich nehme an, daß du von diesen beiden Möglichkeiten weißt.«
»Red weiter«, sagte Blaine.
»Die dritte Möglichkeit ist die: Sein Geist zerbricht während des Todestraumas, aber nicht genug, um aufgelöst zu werden. Er kommt bis an die Schwelle. Aber die Anstrengung hat ihn beschädigt. Er ist verrückt geworden. Und so entsteht ein Gespenst, mein Freund.«
»Hm«, sagte Blaine. »Dann ist ein Gespenst also ein Geist, der während des Todestraumas verrückt geworden ist?«
»Genau. Er ist verrückt, und er spukt.«
»Aber warum?«
»Gespenster spuken«, sagte Melhill, »weil sie angefüllt sind mit Haß, Wut, Furcht und Schmerz. Sie wollen nicht ins Jenseits. Sie wollen so lange wie möglich auf der Erde bleiben, auf die sich ihre Aufmerksamkeit immer noch richtet. Sie wollen Leute erschrecken, ihnen wehtun, sie in den Wahnsinn treiben. Das Spuken ist das antisozialste, was sie tun können, es ist ihr Wahnsinn. Schau mal, Tom, seit den Anfängen der Menschheit …«
*
Seit den Anfängen der Menschheit hatte es immer schon Gespenster gegeben, aber ihre Zahl war immer gering. Nur ein paar Menschen pro Million überlebten ihren Tod, und nur ein winziger Prozentsatz dieser Überlebenden wurde während des Übergangs wahnsinnig und wurde zu Gespenstern.
Aber die Wirkung, die diese wenigen auf die vom Tode faszinierte Menschheit ausübte, war kolossal; auf eine Menschheit, die erschreckt war von der kalten, achtlosen Unbeweglichkeit einer Leiche, die vor kurzem noch so lebendig und schnell gewesen war, schockiert von dem grausigen, beziehungslosen Humor des Skeletts. Die gründliche, geheimnisvolle Gestalt des Todes schien unendlich bedeutungsvoll zu sein, ihr warnender Finger zeigte auf einen mit Geistern angefüllten Himmel. So kam es, daß für jedes echte Gespenst durch Gerüchte und Angst tausend weitere erfunden wurden. Jede schreiende Fledermaus wurde zu einem Gespenst. Moorfeuer, flatternde Vorhänge und schwankende Bäume wurden zu Gespenstern, und St.-Elms-Feuer, großäugige Eulen, Ratten im Gemäuer, Füchse im Gebüsch, sie alle wurden zu Beweisen für das Gespenstische gemacht. Die Volksüberlieferungen blühten und brachten Hexen und Zauberer hervor, bösartige kleine Familiare, Dämonen und Teufel, Sukkubi und Inkubi, Werwölfe und Vampire. Hinter jedem Gespenst witterte man tausend weitere, und für jede übernatürliche Tatsache nahm man eine Million weitere an.
Die frühen Wissenschaftler traten bei ihren Forschungen in dieses Labyrinth ein und versuchten, die Wahrheit über übernatürliche Erscheinungen herauszubekommen. Sie entlarvten zahllose Betrügereien, Halluzinationen und Fehlurteile. Und sie fanden einige echte, unerklärliche Geschehnisse, die, wenn auch interessant, statistisch insignifikant waren.
Die ganzen Volksüberlieferungen würden über den Haufen geworfen. Statistisch gesehen gab es keine Gespenster. Aber dennoch war da beständig ein heimtückisches, nicht festzumachendes Etwas, das sich weigerte, stillzuhalten und sich untersuchen zu lassen. Jahrhundertelang ignorierte man es, dieses seltene Etwas, das den Erzählungen von Sukkubi und Inkubi eine Grundlage und Realität bescherte. Bis die Wissenschaft schließlich die Volkslegenden einholte, ihnen einen Platz unter den unanfechtbaren Erscheinungen einräumte und sie salonfähig machte.
Als das wissenschaftliche Jenseits entdeckt worden war, verstand man das irrationale Gespenst als einen wahnsinnig gewordenen Geist, der die neblige Zwischenwelt zwischen Erde und Jenseits bewohnte. Die Arten des Gespensterwahnsinns ließen sich genauso kategorisieren wie der Wahnsinn auf der Erde. Es gab die Melancholiker, die trübsinnig durch die Bilder ihrer großen Leidenschaften schwebten; den flüsternden Hebephreniker, der fröhlichen, willkürlichen Unsinn daherplapperte; die Idioten und Retardierten, die in der Verkleidung von kleinen Kindern wiederkamen; die Schizophrenen, die sich für Tiere hielten, Prototypen des Vampirs und des Schneemenschen, des Werwolfs, Wertigers, Werfuchses, Werhunds. Es gab die zerstörerischen, steinewerfenden, brandstiftenden Gespenster, die Poltergeister und die großsprecherischen Paranoiker, die sich selbst für Luzifer oder Beelzebub hielten, für Israfael oder Azazael, den Geist der Vergangenen Weihnacht, für die Furien, die Göttliche Gerechtigkeit oder sogar für den Tod persönlich.
Spuk war Wahnsinn. Sie weinten am alten Wachturm, diese wenigen Gespenster, auf deren schimmernden Schultern das ganze große Gebäude der Volksüberlieferung ruhte, sie vermengten sich mit den Nebeln am Galgen und stammelten ihren Unsinn bei Seancen hervor. Sie redeten, weinten, tanzten und sangen zur Belustigung der Leichtgläubigen, bis wissenschaftliche Beobachter mit ihren nüchternen, kalten Fragen erschienen. Da flohen sie zurück an die Schwelle, entsetzt von diesem Gegenschlag der Vernunft, um ihre Illusionen bangend, in der Furcht, kuriert zu werden.
*
»So war das«, schloß Melhill. »Den Rest kannst du dir denken. Seit es die Jenseits, Inc. gibt, haben verflucht viel mehr Leute den Tod überlebt. Aber natürlich werden auch sehr viel mehr dabei wahnsinnig.«
»Und dadurch entstanden viel mehr Gespenster«, schloß Blaine.
»Genau. Eins davon ist hinter dir her«, sagte Melhill, und seine Stimme wurde schwächer. »Also paß auf dich auf, Tom, ich muß jetzt gehen.«
»Was ist denn das für ein Gespenst?« fragte Blaine. »Wessen Geist ist es? Und warum mußt du weg?«
»Man braucht Energie, um auf der Erde zu bleiben«, flüsterte Melhill. »Ich bin so gut wie verbraucht. Muß mich erst wieder aufladen. Hörst du mich noch?«
»Ja, red weiter.«
»Ich weiß nicht genau, wann sich das Gespenst zeigen wird, Tom. Und ich weiß auch nicht, wer es ist. Ich habe ihn gefragt, aber er wollte es mir nicht sagen. Hüte dich jedenfalls vor ihm.«
»Ich passe auf«, sagte Blaine und preßte das Ohr an den Lautsprecher. »Ray! Werde ich dich nochmal sprechen können?«
»Ich glaube schon«, sagte Melhill, dessen Stimme kaum noch zu hören war. »Tom, ich weiß, daß du einen Job suchst. Versuch es mal bei Ed Franchel, 322 West 19. Straße. Ist rauhe Arbeit, bringt aber auch gutes Geld. Und paß auf dich auf!«
»Ray!« schrie Blaine. »Was für eine Art von Gespenst ist das?«
Er erhielt keine Antwort. Der Lautsprecher blieb still, und er war allein in dem grauen Raum.
322 West 19. Straße, die Adresse, die Ray Melhill ihm gegeben hatte, war ein kleines, heruntergekommenes Braunsteinhaus in der Nähe der Docks. Blaine stieg die Stufen hoch und drückte den Erdgeschoßsummer, auf dem Edward J. Franchel Enterprises stand. Ein großer, beinahe glatzköpfiger Mann in Hemdsärmeln öffnete die Tür.
»Mr. Franchel?« fragte Blaine.
»Der bin ich«, sagte der Mann mit einem entschiedenen fröhlichen Lächeln. »Hier entlang, Sir.«
Er führte Blaine in ein Apartment, in dem es scharf nach gekochtem Kohl stank. Der vordere Teil des Apartments war als Büro eingerichtet, mit einem papierübersäten Schreibtisch, einem staubigen Aktenschrank und mehreren Stühlen mit steifen Rückenlehnen. Dahinter sah Blaine ein dunkles Wohnzimmer. Aus dem hinteren Innenraum des Apartments krächzte ein Solido eine Tagesshow heraus.
»Entschuldigen Sie bitte den Zustand«, sagte Franchel und winkte Blaine auf einen Stuhl. »Ich werde in ein richtiges Büro im oberen Teil der Stadt ziehen, sobald ich die Zeit dazu habe. Die Aufträge sind so schnell und wild reingekommen … Nun, Sir, was kann ich für Sie tun?«
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