Ein beglaubigtes, wissenschaftliches Jenseits war zweifellos ein Vorteil für die Menschheit. Die Manipulation hatte die Theorie wieder eingeholt! Aber die Nachteile … Es gab eine bestimmte Aufweichung der Schutzgrenzen des irdischen Lebens, ein paar Risse im Vorhang, ein paar Brüche im Deich. Die Toten weigerten sich, still zu bleiben, sie beharrten darauf, sich im Leben einzumischen. Zu wessen Vorteil? Sogar Gespenster – zweifellos logisch und innerhalb der bekannten Naturgesetze operierend. Aber das war ein kühler Trost für einen heimgesuchten Menschen.
Heutzutage, dachte Blaine, brach eine völlig neue Existenzebene in die Existenz des Menschen auf der Erde ein. Genau wie der Zombie auf beunruhigende Weise in seine Existenz eingebrochen war.
Das Helitaxi landete auf dem Dach eines Hochhauses. Marie Thorne zahlte und führte Blaine zu ihrem Apartment.
*
Es war ein großes, luftiges Apartment, auf angenehme Weise weiblich und mit einem gewissen Hauch des Spektakulären eingerichtet. Es waren mehr helle Farben zu sehen, als Blaine bei Miss Thornes schwermütigem Charakter erwartet hatte; aber vielleicht drückten die strahlenden Gelbtöne und das scharfe Rot eine Art von Wunsch aus, eine Kompensation für die Einengung durch ihr berufliches Leben. Oder vielleicht war es auch nur gerade der vorherrschende Stil. Das Apartment enthielt die Art von Geräten, die Blaine mit der Zukunft verband: sich selbst einstellende Beleuchtung und Klimaregulierung, pneumatische Sessel und eine Bar, die auf Knopfdruck einen vernünftigen Martini produzierte.
Marie Thorne ging in eines der Schlafzimmer. Sie kehrte in einem Hauskleid mit hohem Kragen zurück und setzte sich ihm gegenüber auf die Couch.
»Nun, Blaine, was haben Sie für Pläne?«
»Ich dachte, daß ich Sie zunächst einmal anpumpen wollte.«
»Kein Problem.«
»Wenn das der Fall sein sollte, dann werde ich mir zunächst ein Hotelzimmer und dann eine Arbeitsstelle suchen.«
»Das wird nicht leicht sein«, sagte sie, »aber ich kenne ein paar Leute, die vielleicht -«
»Nein danke«, wehrte Blaine ab. »Ich hoffe, daß sich das nicht allzu dämlich anhört, aber ich würde mir lieber selbst eine Stelle suchen.«
»Nein, das hört sich nicht dämlich an. Ich hoffe nur, daß es auch möglich ist. Wie wär’s mit Abendessen?«
»Prima. Kochen Sie auch?«
»Ich drücke auf Knöpfe«, sagte sie. »Mal sehen. Wie wär’s mit einem echt marsianischen Essen?«
»Nein danke«, sagte Blaine. »Marsianisches Essen schmeckt zwar gut, aber es hält nicht lange vor. Haben Sie zufällig ein Steak im Haus?«
Marie drückte die Knöpfe, und ihr automatischer Koch erledigte den Rest:
Er wählte die Zutaten aus der Speisekammer und der Gefrierbox, schälte, richtete an, wusch und kochte sie und bestellte Nachschub als Ersatz.
Das Essen war ausgezeichnet, aber Marie schien auf merkwürdige Weise verlegen deswegen zu sein. Sie entschuldigte sich bei Blaine wegen der völligen Automatisierung des Vorgangs.
Schließlich stammte er ja aus einer Zeit, in der die Frauen ihre Konservenbüchsen selbst öffneten und auch selbst abschmeckten; aber damals hatten sie wahrscheinlich auch mehr Zeit dafür.
Als sie ihren Kaffee getrunken hatten, war die Sonne bereits untergegangen. Blaine sagte: »Recht vielen Dank, Miss Thorne. Wenn Sie mir nun das Geld leihen könnten, dann mache ich mich auf den Weg.«
Sie blickte ihn erstaunt an. »In der Nacht?«
»Ich werde schon ein Hotelzimmer finden. Sie sind sehr nett zu mir gewesen, aber ich will Ihnen nicht länger -«
»Ist schon gut«, sagte sie. »Bleiben Sie ruhig über Nacht.«
»Na gut«, sagte Blaine. Sein Mund war plötzlich trocken, und sein Herz schlug verdächtig schnell. Er wußte, daß an ihrer Einladung nichts Persönliches war, aber sein Körper verstand das nicht, wie es schien. Er bestand darauf, hoffnungsfroh zu reagieren, sogar erwartungsvoll – auf die selbstbeherrschte, antiseptische Miss Thorne.
Sie wies ihm ein Schlafzimmer zu und gab ihm einen grünen Pyjama. Als sie gegangen war, schloß Blaine die Tür, zog sich aus und stieg ins Bett. Als er dem Licht sagte, daß es ausgehen sollte, erlosch es.
Kurz darauf kam Miss Thorne herein, so wie sein Körper es erwartet hatte. Sie trug etwas Weißes, Schimmerndes und legte sich neben ihn.
Schweigend lagen sie nebeneinander. Marie rückte näher an ihn heran, und Blaine legte einen Arm unter ihren Kopf.
Er sagte: »Ich dachte, daß mein Typ Sie nicht anzieht?«
»Nicht ganz. Ich habe nur gesagt, daß ich große schlanke Männer vorziehe.«
»Ich war mal ein großer, schlanker Mann.«
»Das habe ich vermutet«, sagte sie.
Sie schwiegen. Blaine wurde unruhig und mißtrauisch. Was bedeutete das? Mochte sie ihn etwa? Oder war das nur eine Sitte der Zeit, eine Art von Eskimo-Gastfreundschaft?
»Miss Thorne«, sagte er, »ich frage mich, ob -«
»Ach sei still!« sagte sie und drehte sich plötzlich zu ihm hin. Ihre Augen wirkten in dem schattigen Zimmer riesig. »Mußt du denn alles hinterfragen, Tom?«
Nachher sagte sie verträumt: »Unter diesen Umständen kannst du mich wohl Marie nennen, glaube ich.«
Am Morgen duschte Blaine, rasierte sich und zog sich an. Marie bestellte per Knopfdruck ein Frühstück für beide. Nachdem sie gegessen hatten, reichte sie ihm einen kleinen Umschlag.
»Wenn du mehr brauchen solltest, kann ich dir noch was geben«, sagte sie. »Was jetzt deinen Job angeht -«
»Du hast mir sehr geholfen«, sagte Blaine. »Aber den Rest würde ich lieber auf eigene Faust machen.«
»Also gut. Meine Adresse und Telefonnummer stehen auf dem Umschlag. Bitte ruf mich an, sobald du ein Hotel gefunden hast.«
»Das werde ich«, sagte er und musterte sie aufmerksam. Es war keine Spur mehr von der Marie der letzten Nacht zu erkennen. Sie hätte eine völlig andere Person sein können. Aber ihre einstudierte Beherrschtheit war Blaine Reaktion genug. Jedenfalls für den Augenblick.
Als sie an der Tür standen, berührte sie seinen Arm. »Tom«, sagte sie, »paß bitte auf dich auf. Und ruf mich an.«
»Das werde ich, Marie«, versprach Blaine. Glücklich und ausgeruht ging er hinaus. Er wollte die Welt erobern.
Blaines erster Gedanke war ursprünglich gewesen, nacheinander die Yacht-Konstruktionsbüros aufzusuchen. Aber er entschied sich dagegen, weil er sich einfach einmal vorgestellt hatte, wie ein Yacht-Designer aus dem Jahre 1806 in ein Büro des Jahres 1958 kam.
Der merkwürdige alte Mann mochte ja sehr talentiert sein, aber was würde ihm das nützen, wenn man ihn fragte, was er von metazentrischer Shelfanalyse verstand, von Flußdiagrammen, von Sekundärkraftzentrierung und der besten Plazierung für Radiopeilgerät und Radar? Welche Firma würde ihn bezahlen, während er alles über Reduktionsgetriebe, abblätternde Lacke, Tanktests, Propellerumdrehungszahlen, Wärmeaustauschsysteme, synthetisches Segeltuch und so weiter lernte?
Keine Chance, entschied Blaine. Er konnte nicht einfach 152 Jahre hinter der Zeit herhinken und in einem Konstruktionsbüro nach einer Stelle fragen. Eine Stelle als was? Vielleicht konnte er viel studieren und sich auf den Stand von 2110 bringen, aber das würde er in seiner Freizeit tun müssen.
Im Augenblick würde er alles annehmen, was er bekommen konnte.
Er ging an einen Zeitungskiosk und kaufte eine mikroverfilmte New York Times und ein Lesegerät. Er ging weiter, bis er eine Bank gefunden hatte, setzte sich und sah sich die Stellenanzeigen an. Schnell ließ er die qualifizierten Angebote aus, für die er ja doch nicht geeignet war, und studierte die Jobs für ungelernte Kräfte. Er las:
»Auto-Cafeteria sucht Mann für Wartung. Lediglich Grundkenntnisse der Robotik erforderlich.«
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