Der Geist, das war ihre Auffassung, war nicht identisch mit der Seele, und die Seele war auch nicht im Geist enthalten und bildete auch kein Teil von ihm. Die Wissenschaft hatte eingestandenermaßen eine Möglichkeit entwickelt, mit deren Hilfe die Lebensdauer eines Teils der Körper-Geist-Wesenheit verlängert werden konnte. Das war zwar nett, berührte die Seele jedoch überhaupt nicht und bedeutete schon gar nicht so etwas wie das Himmelreich oder Nirwana oder Ähnliches. Die Seele konnte durch wissenschaftliche Manipulationen nicht angerührt werden. Und das Schicksal der Seele nach dem unausweichlichen Tod des Geistes im wissenschaftlichen Jenseits hing wie gehabt von den Normen ab, wie sie schon immer von traditionellen moralischen, ethischen und religiösen Anschauungen postuliert worden waren.«
»Puh!« sagte Blaine. »Ich verstehe, was Sie meinen. Die haben also versucht, eine Koexistenz zwischen Wissenschaft und Religion zu erreichen. Aber war ihre Argumentation nicht für einige Leute ein bißchen zu hoch und spitzfindig?«
»Ja«, sagte Marie Thorne, »obwohl sie es natürlich besser erklärt haben als ich und es mit allen möglichen Analogien veranschaulicht haben. Aber das war nur eine Meinung. Es gab auch andere, die nicht nach einer Koexistenz strebten. Sie behaupteten einfach, daß das wissenschaftliche Jenseits sündig wäre. Und eine Richtung löste das Problem dadurch, daß sie sich auf die Seite der Wissenschaft schlug und erklärte, daß die Seele im Geist enthalten sei.«
»Das wird dann wohl vermutlich die Kirche des Jenseits gewesen sein?«
»Ja. Sie spalteten sich von den anderen Religionen ab. Nach ihrer Lehre enthält der Geist die Seele, und das Jenseits ist die Wiedergeburt der Seele, ohne spirituelles Wenn und Aber.«
»Das nenne ich auf der Höhe der Zeit bleiben!« meinte Blaine. »Aber die Moral -«
»Ihrer Meinung nach schaffte das die Moral nicht ab. Die Jenseitsler meinen, daß man Moral und Ethik niemandem durch ein System der Belohnung und Bestrafung aufzwingen kann; und selbst wenn man es könnte, sollte man es trotzdem nicht tun. Sie sagen, daß die Moral um ihrer selbst willen gelebt werden muß, zunächst einmal, was den Gesellschaftsorganismus angeht und dann auch was das höchste Gut des Individuums betrifft.«
Blaine fand, daß das ziemlich viel von der Moral verlangte. »Ich vermute, daß das eine sehr beliebte Religion ist?« fragte er.
»Äußerst beliebt«, antwortete Marie Thorne.
Blaine wollte noch weitere Fragen stellen, doch Father James hatte mit einer Rede begonnen.
»William Fitzsimmons«, sagte der Pfarrer zu dem Wirt, »Sie sind aus freien Stücken hierhergekommen, um Ihre Existenz auf der irdischen Ebene zu beenden und auf der spirituellen fortzusetzen?«
»Ja, Father«, flüsterte der blasse Wirt.
»Und man hat auch die notwendigen wissenschaftlichen Verfahren angewandt, um zu gewährleisten, daß Sie Ihre Existenz auf der spirituellen Ebene fortsetzen können?«
»Ja, Father.«
Father James wandte sich an Reilly. »Kenneth Reilly, Sie sind aus freien Stücken hierhergekommen, um Ihre Existenz auf der Erde im Körper von William Fitzsimmons fortzusetzen?«
»Ja, Father«, antwortete Reilly.
»Da all dies der Fall ist«, fuhr Father James fort, »wird hierbei kein Verbrechen begangen, weder ein weltliches noch ein geistliches. Es wird kein Leben genommen, denn das Leben und die Persönlichkeit von William Fitzsimmons werden im Jenseits ungehindert fortgesetzt, und das Leben und die Persönlichkeit von Kenneth Reilly werden ungehindert auf der Erde fortgesetzt. Die Reinkarnation möge deshalb erfolgen!«
Für Blaine schien es wie eine abscheuliche Mischung aus Hochzeit und Exekution. Der lächelnde Geistliche zog sich zurück. Die Techniker schnallten die Männer an ihre Sessel und befestigten Elektroden an ihren Armen, Beinen und Stirnen. Das Theater wurde still, und die Direktoren von Rex lehnten sich gespannt nach vorne.
»Los!« sagte Reilly und blickte Blaine lächelnd an.
Der Cheftechniker drehte an einem Knopf an der schwarzen Maschine. Das Gerät fing an, laut zu summen, und die Scheinwerfer wurden matter. Beide Männer zuckten verkrampft gegen ihre Schnallen, dann sackten sie zusammen.
Blaine flüsterte: »Sie ermorden diesen armen Bastard Fitzsimmons.«
»Dieser arme Bastard«, sagte Marie Thorne, »wußte genau, was er tat. Er ist siebenunddreißig Jahre alt und war schon sein ganzes Leben lang ein Versager. Er hat noch nie einen Job lange halten können und hatte keinerlei Chance auf ein Überleben nach dem Tode. Das war eine wunderbare Gelegenheit für ihn. Außerdem hat er eine Frau und fünf Kinder, die er nicht versorgen konnte. Die Summe, die Mr. Reilly bezahlt hat, wird es der Frau ermöglichen, den Kindern eine gute Ausbildung zu finanzieren.«
»Hurra!« sagte Blaine. »Wie schön für sie! Zu verkaufen: Vater mit kaum benutztem Körper in ausgezeichnetem Zustand. Sonderangebot! Umständehalber abzugeben!«
»Sie sind albern«, sagte sie. »Schauen Sie, es ist vorbei.«
Die Maschine wurde abgestellt, und man schnallte die beiden Männer fest. Reillys verrunzelte alte Leiche blieb unbeachtet, während die Techniker und die Ärzte den Wirtskörper untersuchten.
»Noch nichts!« rief der bärtige alte Arzt.
Blaine spürte die Nervosität im Saal, die sich mit einem Hauch von Furcht vermengt hatte. Die Sekunden zogen sich dahin, während die Ärzte und Techniker den Körper umringten.
»Immer noch nichts!« rief der alte Arzt, und seine Stimme wurde schrill.
»Was ist los?« fragte Blaine Marie Thorne.
»Wie ich Ihnen ja schon sagte, die Reinkarnation ist schwierig und gefährlich. Reillys Geist hat es bisher noch nicht geschafft, in den Wirtskörper einzudringen. Viel Zeit hat er nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Weil ein Körper in dem Augenblick zu sterben anfängt, in dem er nicht mehr bewohnt wird. Wenn der Geist nicht wenigstens latent im Körper ist, setzen unwiderrufliche Todesvorgänge ein. Der Geist ist lebenswichtig. Selbst ein bewußtloser Geist kontrolliert immer noch die automatischen Körpervorgänge. Aber ohne jeden Geist -«
»Immer noch nichts!« schrie der alte Doktor.
»Ich glaube, jetzt ist es schon zu spät«, flüsterte Marie Thorne.
»Ein Beben!« sagte der Arzt. »Ich habe ein Beben gespürt!«
Ein langes Schweigen setzte ein.
»Ich glaube, er ist drin!« rief der alte Arzt. »Los jetzt, Sauerstoff! Adrenalin!«
Sie setzten dem Gesicht des Wirts eine Maske auf und verabreichten ihm eine Spritze. Der Wirt bewegte sich, zitterte, sackte zusammen und bewegte sich aufs neue.
»Er hat es geschafft!« rief der alte Arzt und entfernte die Sauerstoffmaske.
Wie auf ein Stichwort hin sprangen die Direktoren von ihren Sitzen und eilten auf die Bühne. Sie umringen den Wirt, der nun mit den Augen rollte und keuchte.
»Herzlichen Glückwunsch, Mr. Reilly!«
»Gut gemacht, Sir!«
»Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, Mr. Reilly!«
Der Wirt starrte sie an. Er wischte sich über den Mund und sagte: »Mein Name ist nicht Reilly!«
Der alte Arzt bahnte sich einen Weg durch die Direktoren und beugte sich über den Wirt. »Nicht Reilly?« fragte er. »Sind Sie Fitzsimmons?«
»Nein«, sagte der Wirt. »Ich bin nicht Fitzsimmons, dieser arme verdammte Narr! Und ich bin auch nicht Reilly. Reilly hat versucht, in diesen Körper zu gelangen, aber ich war zu schnell für ihn. Ich bin als erster reingekommen. Es ist jetzt mein Körper.«
»Wer sind Sie?« fragte der Doktor.
Der Wirt erhob sich. Die Direktoren wichen von ihm zurück, und einer von ihnen bekreuzigte sich hastig.
»Er war zu lange tot«, sagte Marie Thorne.
Das Gesicht des Wirts war nur noch schwach und sehr stilisiert das Antlitz des blassen, ängstlichen William Fitzsimmons. Es war nichts von Fitzsimmons’ Entschlossenheit darin, nichts von Reillys Verdrießlichkeit und Gutmütigkeit in diesem Gesicht. Es glich nur sich selbst.
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