»Ich höre«, sagte Blaine.
»Was halten Sie davon, wenn Rex Ihnen eine Jenseitsversicherung kauft und somit Ihr Leben nach dem Tode sicherstellt? Würden Sie dann in Selbstmord einwilligen?«
Blaine klimperte einen Augenblick lang sehr schnell mit den Augenlidern. »Nein.«
»Warum denn nicht?« fragte Reilly.
Einen Augenblick lang schien die Antwort selbstverständlich zu sein. Welches Lebewesen willigte schon freiwillig in seinen eigenen Tod ein? Unglücklicherweise tat der Mensch das inzwischen aber. Also mußte Blaine Zeit gewinnen und seine Gedanken ordnen.
»Zunächst einmal«, sagte er, »bin ich nicht völlig von diesem Jenseits überzeugt.«
»Angenommen, wir würden Sie überzeugen«, meinte Mr. Reilly. »Würden Sie dann in einen Selbstmord einwilligen?«
»Nein!«
»Wie kurzsichtig! Mr. Blaine, überdenken Sie doch einmal Ihre Lage. Dieses Zeitalter ist Ihnen feindlich gesinnt, es ist Ihnen fremd, es ist unbefriedigend für sie. Was könnten Sie schon für eine Arbeit leisten? Mit wem könnten Sie sich schon unterhalten, und über was denn eigentlich? Sie können ja noch nicht einmal in den Straßen Spazierengehen, ohne ständig in Lebensgefahr zu schweben.«
»Das wird nicht noch einmal passieren«, sagte Blaine. »Ich wußte einfach nicht, was hier so abläuft.«
»Aber natürlich wird es wieder passieren! Sie werden niemals wissen können, was hier abläuft! Niemals wirklich. Sie sind in der gleichen Situation, in der ein Höhlenmensch gewesen wäre, wenn er per Zufall in Ihrem 1958 gelandet wäre. Er würde sich wohl schon für fähig halten, nehme ich an, zu überleben, eben auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit Säbelzahntigern und haarigen Mastodons. Vielleicht würde ihn sogar irgendeine barmherzige Seele vor Gangstern warnen. Aber was würde das schon nützen? Würde ihn das davor bewahren, von einem Auto überfahren zu werden, auf einer U-Bahnspur einen Elektroschock zu erleiden, in einen Fahrstuhlschacht zu fallen, von einer Kreissäge zerstückelt zu werden oder sich in der Badewanne das Genick zu brechen? Um unbeschadet unter solchen Bedingungen einherzuwandeln, muß man in sie hineingeboren sein. Und selbst dann erleiden immer noch zahlreiche Menschen Ihres Zeitalters solche Unfälle, wenn Ihre Aufmerksamkeit auch nur einen Augenblick nachläßt! Um wieviel wahrscheinlicher ist es da doch, daß unser Höhlenmensch ausrutschen würde?«
»Sie übertreiben die Lage«, sagte Blaine, der spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bildeten.
»Tue ich das? Die Gefahren des Waldes sind unbedeutend im Vergleich zu denen der Stadt. Und wenn aus der Stadt eine Superstadt geworden ist -«
»Ich werde keinen Selbstmord begehen«, sagte Blaine. »Ich werde es riskieren. Lassen wir jetzt das Thema.«
»Warum sind Sie denn nicht vernünftig?« beharrte Mr. Reilly. »Bringen Sie sich doch jetzt um, und ersparen Sie uns allen einen Haufen Ärger! Ich kann Ihnen Ihre Zukunft vorhersagen, wenn Sie es schon nicht können. Vielleicht überleben Sie durch reine Nervenanstrengung und List ein Jahr lang. Vielleicht sogar zwei. Es wird nichts ausmachen, denn am Ende werden Sie ja doch Selbstmord begehen. Sie sind der Selbstmordtyp. Der Selbstmord steht Ihnen ins Gesicht geschrieben – Sie sind dazu geboren, Blaine! In einem oder in zwei Jahren werden Sie sich selbst umbringen, voller Erleichterung werden Sie endlich aus Ihrem gequälten Fleisch entweichen – aber ohne ein Jenseits, das ihren matten Geist willkommenheißen wird.«
»Sie sind verrückt!« rief Blaine.
»Was Selbstmordtypen angeht, da irre ich mich nie«, sagte Mr. Reilly ruhig. »Ich kann sie riechen. Mein Großvater stimmt mir darin zu. Wenn Sie also doch nur -«
»Nein«, erwiderte Blaine fest. »Ich werde mich nicht umbringen. Ich fürchte, da müssen Sie sich schon jemanden mieten, der das für Sie erledigt.«
»Das ist nicht mein Stil«, sagte Mr. Reilly. »Ich werde Sie nicht zwingen. Aber kommen Sie doch heute nachmittag zu meiner Reinkarnation. Erhaschen Sie doch mal einen Blick ins Jenseits! Vielleicht ändern Sie dann Ihre Meinung.«
Blaine zögerte, und der alte Mann grinste ihn an.
»Keine Angst, ich verspreche es Ihnen, es ist kein Trick dabei, kein Haken! Haben Sie befürchtet, daß ich Ihren Körper stehlen könnte? Ich habe mir meinen Körper schon vor Monaten ausgesucht, auf dem offenen Markt. Ehrlich gesagt, würde ich Ihren Körper überhaupt nicht wollen. Wissen Sie, ich würde mich niemals in etwas so Grobschlächtigem wohlfühlen können.«
Das Gespräch war beendet. Marie Thorne führte Blaine hinaus.
Der Reinkarnationssaal war wie ein kleines Theater aufgebaut. Er wurde oft benutzt, erfuhr Blaine, und zwar für Firmenvorträge und Managerschulungen. Das heutige Publikum war klein und ausgesucht. Der Aufsichtsrat von Rex war anwesend, fünf Männer mittleren Alters, die in der letzten Reihe saßen und leise miteinander redeten. Neben ihnen befand sich eine Sekretärin, die Aufnahmen machte. Blaine und Marie Thorne saßen vorne, so weit entfernt von den Direktoren wie es nur ging.
Auf der erhöhten Bühne stand, von weißen Scheinwerfern angestrahlt, das Reinkarnationszubehör. Es bestand aus zwei stabilen Armlehnensesseln, die mit Schnallen und Drähten bestückt waren. Zwischen den Sesseln stand eine große schwarze Maschine, die blankpoliert schimmerte. Dicke Kabel verbanden die Maschine mit den Sesseln und vermittelten Blaine ein ungutes Gefühl, als würde er bald einer Hinrichtung beiwohnen. Mehrere Techniker beugten sich über die Maschine und justierten sie abschließend. Neben ihnen stand der bärtige alte Doktor und sein rotgesichtiger Kollege.
Mr. Reilly kam auf die Bühne, nickte dem Publikum zu und setzte sich in einen der Sessel. Ihm folgte ein Mann in den Vierzigern, der einen ängstlichen Ausdruck in seinem blassen, entschlossenen Gesicht trug. Dies war der Wirt, der gegenwärtige Besitzer des Körpers, den Mr. Reilly gekauft hatte. Der Wirt setzte sich in einen anderen Sessel, blickte sich kurz im Publikum um und betrachtete dann seine Hände. Er schien verlegen zu sein. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen, und die Achselhöhlen seines Jacketts wiesen dunkle Flecken auf. Er sah Reilly nicht an, und dieser schenkte ihm auch keinen Blick.
Ein weiterer Mann auf der Bühne, der kahlköpfig war und ernst dreinblickte, trug einen dunklen Anzug mit einem Stehkragen und hatte ein kleines schwarzes Buch in der Hand. Er begann ein geflüstertes Gespräch mit den beiden Männern in ihren Sesseln.
»Wer ist das denn?« fragte Blaine.
»Father James«, sagte Marie Thorne. »Er ist Pfarrer der Kirche des Jenseits.«
»Was ist das?«
»Eine neue Religion. Haben Sie von den Verrückten Jahren gehört? Na ja, damals gab es eine heftige religiöse Kontroverse …
Die brennendste Frage der Vierziger war die nach dem spirituellen Zustand des Jenseits. Es wurde noch schlimmer als die Jenseits, Inc. das Kommen des wissenschaftlichen Jenseits ankündigte. Die Firma versuchte verzweifelt, sich aus jeder religiösen Debatte herauszuhalten, aber das ließ sich schlecht vermeiden. Die meisten Kirchenmänner waren der Meinung, daß die Wissenschaft sich auf unfaire Weise in ihr Gebiet eingemischt hatte. Ob sie es nun wollte oder nicht, die Jenseits, Inc. wurde als Wortführer einer neuen religiösen Einstellung angesehen: Daß die Erlösung nämlich nichts mit religiösem, moralischen oder ethischen Erwägungen zu tun hatte, sondern auf einem angewandten, unpersönlichen, unabänderlichen wissenschaftlichen Prinzip beruhte.
Es wurden Zusammenkünfte, Treffen und Kongresse abgehalten, um diese brennende Frage zu beantworten. Manche Gruppen kamen zu der Überzeugung, daß das von der Wissenschaft neu enthüllte Jenseits offensichtlich nicht der Himmel, die Erlösung, das Nirwana oder das Paradies sei, denn es hatte nichts mit der Seele zu tun.
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