Das Gesicht war totenblaß bis auf die schwarzen Bartstoppeln an Kinn und Wangen. Die Lippen waren blutlos. Als Fitzsimmons noch da gewesen war, waren die Züge in harmonischem, unauffälligen Übereinklang gewesen. Doch nun waren die einzelnen Züge verhärtet und voneinander getrennt. Das unharmonische weiße Gesicht sah grob und unfertig aus, wie Eisen vor der Bearbeitung oder Ton vor dem Brennen. Es trug einen schlaffen, mißmutigen entspannten Ausdruck, weil Muskeltonus und -spannung im Gesicht fehlten. Die ruhigen, formlosen, unharmonischen Züge existierten einfach und verrieten nichts über die Persönlichkeit, die dahinter lag. Das Gesicht wirkte nicht mehr völlig menschlich. Alles, was menschlich an der Gestalt war, ruhte nun in den großen, geduldigen, ruhigen Buddhaaugen.
»Der Körper ist zum Zombie geworden«, flüsterte Marie Thorne und klammerte sich an Blaines Schulter fest.
»Wer sind Sie?« fragte der alte Arzt.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte das Wesen. »Ich kann es nicht.« Es drehte sich langsam um und wollte von der Bühne steigen. Zwei der Direktoren stellten sich ihm zögernd in den Weg.
»Haut ab«, sagte er, »das ist jetzt mein Körper.«
»Lassen Sie den armen Zombie in Frieden«, sagte der alte Arzt erschöpft.
Die Direktoren machten den Weg frei. Der Zombie ging ans Ende der Bühnen, schritt die Stufen hinab und kam zu Blaine herüber.
»Ich kenne dich!« sagte er.
»Was? Was wollen Sie?« fragte Blaine nervös.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte der Zombie und starrte ihn konzentriert an. »Wie heißt du?«
»Tom Blaine.«
Der Zombie schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts. Aber ich werde mich schon noch dran erinnern. Du bist es schon, das stimmt schon. Irgendwas … Mein Körper stirbt, nicht wahr? Schade. Ich werde mich dran erinnern, bevor er tot ist. Du und ich, weißt du, wir waren zusammen. Blaine, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
»Nein!« schrie Blaine und zuckte vor der Vorstellung zurück, daß es zwischen ihm und diesem sterbenden Ding eine lebenswichtige Beziehung geben sollte. Das konnte einfach nicht sein! Auf welches gemeinsame Geheimnis spielte dieser Leichendieb da an, dieser schmutzige Usurpator, welche dunkle Intimität deutete er da an, welches gemeinsame Wissen, das nur von ihm und Blaine wahnsinnig keckernd geteilt werden sollte, wie eine schmutzige Brotrinde?
Nichts, sagte Blaine zu sich selbst. Er kannte sich selbst, wußte, wer er war, was er gewesen war. Nichts Derartiges hatte das Recht, sich zu erheben und ihn … Diese Kreatur mußte verrückt sein oder sich irren.
»Wer sind Sie?« fragte Blaine.
»Ich weiß es nicht!« Der Zombie warf seine Hände in die Höhe wie ein Mann, der in einem Netz gefangen war. Und Blaine spürte, was dieser Geist fühlen mußte, verwirrt, desorientiert, namenlos, mit dem Willen zu leben und eingekerkert in der fleischigen, sterbenden Umarmung eines Zombiekörpers.
»Ich werde dich wieder aufsuchen«, sagte der Zombie zu Blaine. »Du bist wichtig für mich. Ich werde dich wiedertreffen und mich an alles über dich und mich erinnern.«
Der Zombie wandte sich um und schritt durch den Gang aus dem Theatersaal hinaus. Blaine starrte ihm nach, bis er plötzlich eine Last auf seiner Schulter spürte.
Marie Thorne war ohnmächtig geworden. Es war die weiblichste Handlung, die sie bisher vollführt hatte.
An der Reinkarnationsmaschine diskutierten der Cheftechniker und der bärtige Arzt miteinander, von ihren Gehilfen respektvoll umringt. Die Auseinandersetzung wurde im Fachjargon geführt, doch Blaine merkte, daß sie wohl versuchten, die Ursache für den Mißerfolg der Reinkarnation herauszufinden. Jeder schien der Meinung zu sein, daß der Hauptfehler beim anderen liege.
Der alte Doktor beharrte darauf, daß die Maschine falsch eingestellt gewesen sein mußte oder daß ein plötzlicher, nicht-kompensierter Energieabfall eingetreten sein mußte. Der Cheftechniker schwor, daß die Maschine perfekt sei. Er war der Überzeugung, daß Reilly dem anstrengenden Versuch körperlich nicht gewachsen gewesen sei.
Niemand wollte auch nur um einen Zoll von seinem Standpunkt abweichen. Aber da sie vernünftige Menschen waren, kamen sie bald zu einer Kompromißlösung. Der Fehler, so einigten sie sich, lag bei dem namenlosen Geist, der Reilly beim Eintrittsversuch in den Körper von Fitzsimmons bekämpft hatte und ihn ausgebootet hatte.
»Aber wer war das?« fragte der Cheftechniker. »Meinen Sie, daß es ein Gespenst war?«
»Möglicherweise«, sagte der Arzt, »obwohl es verdammt selten ist, daß Gespenster in einen lebenden Körper eindringen. Aber er hat verrückt genug geredet, um ein Gespenst sein zu können.«
»Wer immer es auch gewesen sein mag«, sagte der Cheftechniker, »den Wirt hat er jedenfalls zu spät übernommen. Der Körper war definitiv zomboid. Na ja, jedenfalls kann man niemanden dafür verantwortlich machen.«
»Genau«, sagte der Doktor. »Ich werde die offensichtliche Intaktheit des Geräts bescheinigen.«
»Ein fairer Vorschlag«, antwortete der Cheftechniker. »Und ich werde die offensichtliche körperliche Eignung des Patienten bescheinigen.«
Sie wechselten einen Blick vollsten Verständnisses.
Die Direktoren hielten mittlerweile eine eigene Konferenz ab und versuchten, die kurzfristigen Auswirkungen abzuschätzen, die das Geschehen auf die personelle Struktur der Firma haben würde, überlegten, wie man die Erklärung publik machen sollte und ob man der Belegschaft von Rex einen freien Tag gewähren sollte, um den Todespalast der Familie Reilly zu besuchen.
Der ursprüngliche Körper des alten Reilly lag zusammengesackt im Sessel und wurde langsam steif. Noch immer trug er sein gelöstes, geringschätziges Grinsen.
Marie Thorne erlangte ihr Bewußtsein wieder.
»Kommen Sie«, sagte sie und führte Blaine aus dem Theatersaal hinaus. Sie eilten durch die langen grauen Gänge auf die Straße, wo sie ein Helitaxi rief und dem Piloten eine Adresse nannte.
»Wo fahren wir hin?« fragte Blaine, als das Helitaxi sich erhob und davonflog.
»In meine Wohnung. Rex wird jetzt eine Weile lang das reinste Irrenhaus sein.« Sie richtete ihre Frisur.
Blaine lehnte sich in die Polster und blickte auf die glitzernde Stadt hinab. Aus dieser Höhe sah sie aus wie eine exquisite Miniatur, ein buntes Mosaik aus Tausendundeiner Nacht. Doch irgendwo dort unten lief der Zombie durch die Straßen und Ebenen und versuchte sich zu erinnern – an ihn.
»Aber warum ich?« fragte Blaine laut.
Marie Thorne blickte ihn an. »Warum Sie und der Zombie? Herrje, warum denn wohl nicht? Haben Sie denn noch nie Fehler gemacht?«
»Ich schätze schon. Aber die sind vorbei und erledigt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht konnten Fehler in Ihrer Zeit für immer vorbei sein. Heutzutage stirbt nichts mehr mit Sicherheit. Das ist einer der großen Nachteile beim Leben nach dem Tode, wissen Sie. Manchmal weigern sich unsere Fehler, sich anständig beerdigen zu lassen und tot zu sein. Manchmal verfolgen sie einen eben.«
»Das merke ich«, sagte Blaine. »Aber ich habe nie etwas getan, das sowas bewirken würde!«
Sie zuckte ungerührt mit den Schultern. »Wenn das der Fall ist, dann sind Sie besser als die meisten von uns.«
Noch nie war sie ihm so fremd gewesen. Das Helitaxi senkte sich langsam. Und Blaine brütete über die Nachteile, die in allen Vorteilen steckten.
In seiner Zeit hatte er erlebt, wie die Seucheneindämmung in den rückständigen Teilen der Welt eine Bevölkerungsexplosion, Hungersnot und neue Krankheiten erzeugt hatte. Er hatte mit angesehen, wie Kernkraft zum Atomkrieg führte. Jeder Vorteil hatte seine eigenen, speziellen Nachteile mit sich gebracht. Warum sollte es da heute anders sein?
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