»Sie meinen, wir könnten uns in einer Art Insektenstock befinden?«
»Ich will nur sagen, auch wenn diese Gebilde zweifellos künstlich sind, so spricht ihre Gleichförmigkeit, was die Größe und vermutlich auch die Funktion angeht, entschieden gegen einen menschlichen Erbauer.«
»Welche Insekten schneiden Granitblöcke von der Größe des Washington Monument?«
»Unvorstellbar. Und — was noch schlimmer ist — ohne Beispiel. Die Literatur kennt nichts Vergleichbares. Wer oder was auch immer diese Stadt gebaut hat, sie scheinen weder Nachfahren noch Vorfahren zu haben. Eine Art punktuelle, abgekapselte Schöpfung.«
Das passte haargenau zu meinen Gedanken. Darwinia ist uns fremd, aber es hat seine Schönheit — die moosgrünen Wiesen, die Lichtungen in den Salbeikieferhainen, die friedlichen Flüsse. Diese Ruinen haben nichts von dieser Anmut. Stunde um Stunde zogen wir durch diese schrecklich monotonen Straßen, während die Sonne nicht über die geborstenen Monumente hinauskam. Die Schneedecke vor uns war völlig unberührt und makellos. Das gab weder Sullivan noch mir zu denken, bis Tom uns mit der Nase darauf stieß. In den vier oder fünf Tagen nach dem letzten Schnee hatte hier kein Tier eine Spur hinterlassen, kein Vogel, auch kein Nachtfalke. Nachtfalken sind in diesem Tal zu Hause; sie hocken scharenweise in den Ruinen am Rand der Stadt. (Leichte Beute, wenn man keine Wahl hat. Nachts pirscht man sich an den schlafenden Schwarm heran, und zwar mit einer Fackel; das Licht blendet sie; ein Mann kann sechs oder sieben Stück mit einem Stock zur Strecke bringen, bevor sie ihre fünf Sinne beisammen haben und auf und davon sind.) Aber hier gab es keine. Zugegeben, mitten in diesem Steinlabyrinth gab es so gut wie keine Nahrung. Trotzdem, dass sich kein Lebewesen hierher verirren sollte, war schon seltsam. Das zerrt an den Nerven, Caroline, und ich muss gestehen, wir wurden immer nervöser, je länger die Schatten wurden. Wir waren hellwach, hätte sich auch nur das Geringste gerührt in unserer Umgebung, es hätte uns bis ins Mark getroffen.
Nicht dass sich irgendetwas getan hätte. Gelegentlich verzeichneten wir das Knistern von Eis oder den weichen Sturz von herabgleitendem Schnee. Bei Einbruch der Dunkelheit schlugen wir ungestört unser Lager auf. Dass wir immer noch nicht da sind, wo Sullivan das Zentrum der Stadt vermutet, zeigt, wie ausgedehnt dieses Artefakt ist. Wir hatten Brennholz dabei, Moscheeäste, hart aber hohl und nicht besonders schwer; in einem Bauwerk mit einem halbwegs intakten Dach entfachten wir ein Feuer. Natürlich nicht, um diese kubische Halle zu heizen, aber wir waren aus dem Wind und konnten uns ein behagliches Eckchen schaffen.
Ich sollte noch erwähnen, dass Tom Compton, der unerschütterliche Pragmatiker, von uns dreien der mit Abstand nervöseste ist. Als ich heute Abend zu schreiben anfing, sagte er etwas Seltsames… murmelte es, so weit vorgebeugt, dass ich fürchtete, sein struppiger Vollbart könne Feuer fangen.
»Ich habe von diesem Ort geträumt«, sagte er.
Mehr wollte er wohl nicht sagen, doch mir war, als hätte mich ein kalter Hauch gestreift. Denn, Caroline, ich habe auch von diesem Ort geträumt, im Herbst, als ich im Fieber lag und das Gift noch in meinem Körper kreiste und ich den Tag nicht von der Nacht unterscheiden konnte… Ich habe auch von dieser Stadt geträumt, und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.
* * *
… und ich habe letzte Nacht wieder von ihr geträumt.
Doch ich muss dir noch mehr erzählen, Caroline, aber viel Zeit bleibt mir nicht. Unser Proviant ist begrenzt und Sullivan besteht darauf, nicht die geringste Zeit zu vergeuden. Daher will ich dir jetzt ohne Umschweife erzählen, was wir gefunden haben.
Die Stadt ist nicht bloß ein Gitter aus Quadraten. Sie hat, wie Sullivan zurecht vermutet, ein Zentrum. Und im Zentrum liegt keine Kathedrale, auch kein Marktplatz, sondern etwas völlig Abwegiges.
Heute Morgen stießen wir auf das Gebäude. Irgendwann einmal muss es aus großer Entfernung zu sehen gewesen sein, inzwischen ist es durch Erosion getarnt. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass Finch das unsägliche Alter dieser Ruinen bestreiten würde.) Das Bauwerk (oder das, was noch übrig ist), steht mitten in einem Trümmerfeld. Gewaltige Steinblöcke versperrten uns den Weg, manche so glatt, als kämen sie frisch aus dem Steinbruch, andere zu grotesken Formen erodiert. Wir ließen den Schlitten zurück und pilgerten durch diesen Irrgarten aus Zufall und Witterungseinflüssen, bis wir endlich auf den Kern des zentralen Bauwerks stießen.
Eine Kuppel aus schwarzem Basalt erhebt sich aus den Trümmern, die Peripherie zu gut einem Viertel offen. Sie ist etwa hundert Fuß hoch und so breit wie ein Stadtwürfel. Die intakten Teile sind noch glatt, beinah seidig, ein Verfahren, an dem Sullivan noch rätselt.
Ein ständiger Nebel verhüllt das Bauwerk, was vielleicht erklärt, warum es uns von den Talhängen aus entgangen war. Schnee und Eis, so Sullivan, wurden von unten her erwärmt und schmolzen und verdunsteten. Selbst hier unten im Trümmerfeld war die Luft spürbar warm, und die Kuppel war schneefrei. Die Temperatur muss ein gutes Stück über dem Gefrierpunkt liegen.
Alle drei standen wir schweigend in diesen Anblick versunken. Ich bedauerte den Verlust meiner Kamera. Was wäre das für eine Platte geworden! The desolate Alpine ruins of the European Hinterland. Caroline, von dieser Photographie hätten wir gut und gerne ein Jahr leben können.
Keiner von uns sprach aus, was er dachte. Vielleicht war es zu phantastisch. Was ich sah, erinnerte mich einmal mehr an die Abenteuergeschichten von E. R. Burroughs mit ihren vulkanischen Höhlen und ihren Tiermenschen, die uralte Götter verehrten.
(Ich weiß, meine Lektüre ist dir ein Dorn im Auge, Caroline, aber die Phantasien von Mr. Burroughs entpuppen sich geradezu als Baedecker für diesen Kontinent! Uns fehlt lediglich eine richtige Prinzessin und mir das Schwert zum Umschnallen.)
Wir kehrten zum Schlitten zurück, fütterten die Wollschlange, nahmen von unseren Vorräten, was wir tragen konnten, und pilgerten wieder retour. Sullivan war so aufgeregt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte; wir mussten ihn abhalten, wie verrückt in der Gegend herumzurennen. Er fand sich mit einem Lager knapp hinter dem Rand des Doms ab und ist offensichtlich enttäuscht, dass wir nicht weiter vorgedrungen sind — aber ein gut Teil des Terrains liegt unter dem seidig glänzenden Steingewölbe, überall liegen Gesteinsbrocken herum, und es ist ehrlich gesagt nicht gerade beruhigend, diese ungestützten Granitmassen über sich zu wissen.
Das Innere des Doms war nahezu lichtlos — die Sonne schickte ihre letzten Strahlen durch die Lücken der Ruinenlandschaft — und Eile tat Not, wenn unser Feuer noch flackern sollte, bevor es vollends dunkel war.
Wir begegneten der Nacht mit einer Mischung aus Erregung und Besorgnis, kauerten am Feuer wie die Westgoten in einem römischen Tempel. Jenseits des Feuerscheins ist nichts zu sehen als der flackernde Widerschein an der hohen Innenseite des Gewölbes.
Nein, das stimmt nicht ganz. Sullivan hat unsere Aufmerksamkeit auf ein anderes Licht gelenkt, noch schwächer als der Widerschein des Feuers, die Quelle muss tief im Innern dieses Trümmerhaufens liegen. Ein natürliches Phänomen, hoffe ich inbrünstig, denn ich werde das haarsträubende Gefühl nicht los, dass wir hier nicht allein sind.
Das Licht taugt nicht zum Schreiben. Ich will mir nicht die Augen verderben. Morgen mehr.
HIER ENDET DAS TAGEBUCH.
* * *
»Ein bisschen mehr Seil, bitte, Guilford.«
Sullivans Stimme kam aus der Tiefe, als trügen die Echos sie nach oben. Guilford gab noch ein paar Fuß Seil aus.
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