»Ich muß zurück zur Arbeit«, sagte Donna. Sie schaute auf die Armbanduhr. »Ich werde ihnen berichten, daß alles okay zu sein scheint, wenn man von dem ausgeht, was Sie mir erzählt haben. Ihrer Einschätzung nach.«
»Warten Sie bis zum Winter«, sagte Westaway.
»Winter?«
»Bis dahin wird es dauern. Fragen Sie nicht, warum, aber so ist es nun mal; entweder wird es im Winter klappen, oder es läuft überhaupt nicht. Wir werden es dann schaffen oder nie.« Genau zur Sonnenwende, dachte er.
»Ein angemessener Zeitpunkt. Dann, wenn alles tot ist und unter dem Schnee begraben.«
Er lachte. »In Kalifornien?«
»Der Winter der Seele. Mors ontologica. Wenn der Geist tot ist.«
»Nur am Schlafen«, sagte Westaway. Er erhob sich. »Ich muß auch abhauen. Ich muß eine Fuhre Gemüse abholen.«
Donna starrte ihn mit einem Blick an, in dem zugleich stumme Trauer, Schmerz und Bestürzung lagen.
»Für die Küche«, sagte Westaway sanft. »Möhren und Salat. Richtiges Gemüse. Gespendet von McCoy’s Supermarkt, für uns Arme vom Neuen Pfad. Tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Es sollte kein Witz sein. Es sollte überhaupt nichts bedeuten.« Er tätschelte ihre in Leder gehüllte Schulter. Und als er das tat, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß vielleicht Bob Arctor diese Jacke als Geschenk für sie gekauft hatte – in besseren, glücklicheren Tagen.
»Wir arbeiten schon lange in dieser Angelegenheit zusammen«, sagte Donna in gedämpftem, ruhigem Tonfall. »Ich möchte nicht mehr viel länger daran arbeiten. Ich wünsche mir, daß das endlich aufhört. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, denke ich mir: Scheiße, wir sind kälter als sie. Als der Gegner.«
»Ich sehe nichts Kaltes, wenn ich Sie anschaue«, sagte Westaway. »Aber natürlich kenne ich Sie eigentlich nicht sehr genau. Was ich allerdings sehe – und ich glaube nicht, daß ich mich täusche –, ist einer der warmherzigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. «
»Ich bin nach außen hin warm, und die Leute können nur die Außenseite sehen. Warme Augen, ein warmes Gesicht, ein warmes, vorgetäuschtes Scheiß-Lächeln, aber innendrin bin ich die ganze Zeit über kalt und voller Lügen. Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine; in Wirklichkeit bin ich schrecklich.« Die Stimme des Mädchens blieb ruhig, und während sie sprach, lächelte sie. Ihre Pupillen waren groß und sanft und ohne Arglist. »Aber dann wieder sage ich mir, daß es nicht anders geht. Oder? Ich habe das vor langer Zeit begriffen und mich gezielt so gemacht, wie ich jetzt bin. Aber eigentlich ist das gar nicht so schlecht. Auf diese Weise bekommt man alles, was man will. Und bis zu einem gewissen Grad ist jeder so. Nur eines an mir ist tatsächlich schlimm – ich bin ein Lügner. Ich habe meinen Freund angelogen. Ich habe Bob Arctor die ganze Zeit über belogen. Ich habe ihm sogar einmal gesagt, er solle bloß nichts von dem glauben, was ich sagte, aber natürlich hat er gedacht, ich würde nur scherzen; er hat nicht auf mich gehört. Aber nachdem ich es ihm einmal gesagt habe, lag es doch nur noch an ihm, ob er von da an noch auf mich hören und mir glauben wollte oder nicht. Ich habe ihn gewarnt. Aber er hat das, was ich ihm gesagt habe, sofort wieder vergessen und einfach weitergemacht. Ist einfach auf seinem Weg weitergegangen, ohne nach rechts oder links zu schauen.«
»Sie haben getan, was Sie tun mußten. Sie haben sogar mehr getan, als Sie tun mußten.«
Das Mädchen entfernte sich langsam vom Tisch. »Okay, dann gibt es soweit also nichts, was ich berichten müßte. Außer Ihrer optimistischen Einschätzung. Einfach nur, daß er eingeschleust worden ist und sie den Köder geschluckt haben. Sie haben nichts aus ihm herausgekriegt bei diesen –« Sie schauderte. »Diesen gemeinen Spielen.«
»Richtig.«
»Dann bis später.« Sie hielt inne. »Die Regierungsleute werden nicht bis zum Winter warten wollen.«
»Im Winter oder nie«, sagte Westaway. »Zur Wintersonnenwende.«
»Zur was?«
»Warten Sie einfach ab«, sagte er. »Und beten Sie.«
»Das ist Quatsch«, sagte Donna. »Beten, meine ich. Ich habe früher mal gebetet, sehr viel sogar, aber jetzt nicht mehr. Wir würden das, was wir tun, nicht tun müssen, wenn Gebete funktionieren würden. Das ist nur wieder so ein Selbstbetrug.«
»Das sind die meisten Sachen.« Als sie sich langsam noch ein paar Schritte zurückzog, folgte er ihr, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte; Zuneigung für sie empfand. »Ich glaube nicht, daß Sie Ihren Freund zerstört haben. Mir scheint, Sie sind genausosehr zerstört worden, ebensosehr ein Opfer. Nur tritt das bei Ihnen nicht so offen zutage. Aber wie dem auch sei – es gab keine andere Wahl.«
»Ich werde in die Hölle kommen«, sagte Donna. Sie lächelte plötzlich, ein breites, jungenhaftes Grinsen. »Meine katholische Erziehung.«
»In der Hölle verkaufen die einem jetzt Klingelbeutel, und wenn man heimkommt, sind lauter kleine McDonald’s-Hamburger drin.«
»Und die sind aus Truthahnscheiße«, sagte Donna. Und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden. Hatte sich zwischen den ziellos dahineilenden Menschen verflüchtigt; er blinzelte. Ob Bob Arctor das gleiche gefühlt hat wie ich jetzt? dachte er. Bestimmt. Im einen Augenblick war sie noch da, und sie schien so dauerhaft zu sein, als würde sie für alle Ewigkeit auch bleiben; dann – nichts. Verschwunden wie Feuer oder Luft, ein Element der Erde, das in die Erde zurückkehrt. Sich mit den Jedermann-Menschen vermischt, die es immer gab und immer geben wird. In ihrer Mitte ausgegossen. Das Mädchen, das verdunstete, dachte er. Das sich nach Belieben wandelt. Das kommt und geht, ganz wie sie will. Und niemand, nichts, kann sie fassen.
Ich versuche, den Wind mit Netzen einzufangen, dachte er. Und das hatte auch Arctor versucht. Wie sinnlos es doch ist, dachte er, einen Rauschgiftagenten der Regierung festhalten zu wollen. Sie sind substanzlos. Schatten, die mit dem Hintergrund verschmelzen, wenn ihr Job das von ihnen fordert. Als ob sie eigentlich schon vorher gar nicht dagewesen wären.
Arctor, dachte er, hat ein von den Behörden geschaffenes Trugbild geliebt, eine holografische Projektion, durch die ein gewöhnlicher Mensch wieder und wieder hindurchgehen kann, nur um am Ende allein herauszukommen. Allein und ohne auch nur für einen Augenblick wirklich in ihr Innerstes eingedrungen zu sein – in das Mädchen selbst.
Der Wille des Herrn, überlegte er, ist es, aus dem Bösen das Gute zu erschaffen. Wenn Er hier aktiv ist, tut Er das auch gerade jetzt, obwohl unsere Augen es nicht wahrnehmen können; der Prozeß liegt unter der Oberfläche der Wirklichkeit verborgen und kommt erst viel später zum Vorschein. Vielleicht für unsere Nachgeborenen, jene armseligen Wesen, die nichts von dem Kampf wissen werden, den wir durchgestanden haben, und nichts von den Verlusten, die wir hinnehmen mußten – außer, wenn sie vielleicht in einer Fußnote zu einem unbedeutenden Buch einen Hinweis darauf finden. Irgendeine kurze Randnotiz, in der nicht einmal die Namen der Gefallenen aufgeführt sind.
Irgendwo, dachte er, sollte man ein Denkmal mit den Namen all jener errichten, die in diesem Krieg gestorben sind. Und auch derer sollte gedacht werden, denen das noch schlimmere Schicksal zuteil geworden ist, nicht zu sterben. Die weiterleben mußten, über ihren Tod hinaus. Wie Bob Arctor. Der tragischste Fall überhaupt.
Ich habe das Gefühl, daß Donna ein Söldner ist. Jemand, der nicht auf der gewöhnlichen Gehaltsliste steht. Und solche Söldner sind noch mehr als die anderen wie flüchtige Gespenster. Sie verschwinden für immer. Man fragt sich, wo sie jetzt ist, und die Antwort darauf lautet – Nirgendwo. Weil sie nämlich sowieso nie dagewesen ist.
Mike Westaway nahm wieder an dem Holztisch Platz, um seinen Hamburger aufzuessen und seine Coke auszutrinken. Denn das war immerhin noch besser als alles, was man ihnen im Neuen Pfad vorsetzte – selbst wenn der Hamburger aus Kuhfladen bestehen sollte.
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