Er hörte ihrer Unterhaltung zu und trank dabei seinen Kaffee.
»– es funktioniert echt, das Telefonbuch, in dem nur eine einzige Nummer drinsteht; egal, wen man sprechen will, man wählt immer diese eine Nummer. Seite um Seite immer nur die gleiche Nummer … ich sprech’ natürlich von ‘ner total ausgeflippten Gesellschaft. Und in deiner Brieftasche hast du diese Nummer auch, die Nummer, hingekritzelt auf Zettel und Karten, für verschiedene Leute. Und wenn du die Nummer vergißt, dann könntest du niemanden mehr anrufen.«
»Du könntest die Auskunft anrufen.«
»Die hat dieselbe Nummer.«
Er hörte immer noch zu; er fand den Ort, den sie da beschrieben, sehr interessant. Wenn man anrief, hörte man vielleicht »Kein Anschluß unter dieser Nummer«, oder jemand meldete sich und sagte: »Tut mir leid, Sie sind falsch verbunden. Haben Sie vielleicht die falsche Nummer gewählt?« Und darum rief man noch mal an, wählte einfach wieder dieselbe Nummer, und diesmal war die Person dran, die man sprechen wollte.
Wenn man zum Arzt ging – es gab nur einen, und der war Spezialist für alles –, dann gab es nur eine Medizin. Nachdem der Arzt einen untersucht hatte, pflegte er immer diese Medizin zu verschreiben. Man brachte das Rezept zur Apotheke, um es dort einzulösen, aber der Apotheker konnte nie lesen, was der Doktor geschrieben hatte, und darum gab er einem die einzige Pille, die er hatte, nämlich Aspirin. Und das half immer, ganz egal, was man hatte.
Wenn man gegen das Gesetz verstieß, dann immer nur gegen das eine Gesetz, gegen das alle wieder und wieder verstießen. Der Bulle schrieb alles sorgfältig auf: welches Gesetz, welcher Verstoß. Jedesmal. Und auf jede Gesetzesverletzung, von der Verkehrsgefährdung bis hin zum Verrat, stand immer dieselbe Strafe, und das war die Todesstrafe. Es gab zwar Bemühungen, die Todesstrafe abzuschaffen, aber dazu durfte es letztlich doch nicht kommen, weil es dann ja zum Beispiel für Verkehrsgefährdung überhaupt keine Strafe mehr gegeben hätte. Also blieb man bei der alten Regelung, und das Volk zehrte sich von innen heraus aus und starb. Aber eigentlich konnte man in diesem Fall wohl doch nicht von »Sterben« sprechen – die Bürger waren schon vorher tot gewesen. Sie verblaßten einfach nur ein bißchen mehr, wenn sie das Gesetz brachen, einer nach dem anderen, und lösten sich dann am Ende nur irgendwie endgültig auf.
Er dachte: Und wenn die Leute dann hören, daß der letzte von ihnen verschwunden ist, werden sie bestimmt sagen, ›Möchte ja zu gerne wissen, was das eigentlich für Menschen waren. Hm – tja, am besten kommen wir am Donnerstag noch mal wieder.‹ Obwohl er sich nicht sicher war, lachte er, und als er seine Geschichte laut erzählte, lachten auch alle anderen im Aufenthaltsraum.
»Sehr gut, Bruce«, sagten sie.
Dieser Satz wurde bald zu einer Art geflügeltem Wort; wenn einer der Insassen des Samarkand House etwas nicht verstand oder etwas, das er holen sollte – etwa eine Rolle Toilettenpapier –, nicht finden konnte, dann pflegte er zu sagen: »Tja, dann komme ich wohl am besten am Donnerstag noch mal wieder.« Im allgemeinen wurde dieser Slogan ihm zugeschrieben. Sein Spruch. Wie bei den Trickfilmen im Fernsehen, in denen Woche für Woche als besonderes Erkennungszeichen die gleichen Sprüche gerissen wurden. Der Slogan verbreitete sich im Samarkand House, und alle wußten, was damit gemeint war.
Als sie sich später eines Abends beim Spiel wechselseitig für die Dinge lobten, die jeder von ihnen in die Gemeinschaft des Neuen Pfades eingebracht hatte, wie etwa neue Konzepte, da wurde er dafür gelobt, den Humor eingebracht zu haben. Er hatte die Fähigkeit mitgebracht, die Dinge als spaßig anzusehen, ganz egal, wie schlecht er sich auch fühlen mochte. Alle im Kreis klatschten, und als er überrascht aufblickte, sah er einen Ring aus lächelnden Gesichtern. Alle Augen waren voller Wärme und Einverständnis auf ihn gerichtet, und das Geräusch ihres Applauses blieb noch lange in ihm, ganz tief drinnen in seinem Herzen.
Gegen Ende August dieses Jahres, zwei Monate nachdem er in das Rehabilitationszentrum des Neuen Pfades eingeliefert worden war, wurde er auf eine therapeutische Farm im Napa Valley überstellt, das sich im Hinterland Nordkaliforniens befindet. Diese Region Kaliforniens wird auch das »Weinland« genannt, weil es dort viele fruchtbare Weinberge gibt.
Donald Abrahams, der Direktor der Neue-Pfad-Stiftung, unterzeichnete den Überstellungsbefehl. Der Vorschlag dazu war von Michael Westaway gekommen, einem Angehörigen seines Mitarbeiterstabes, der besonders daran interessiert war, herauszufinden, was für Bruce getan werden konnte. Vor allem, da das Spiel ihm nicht geholfen hatte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, mußte man sogar zugeben, daß sein Zustand durch das Spiel eher noch verschlechtert worden war.
»Dein Name ist Bruce«, sagte der Manager der Farm, als Bruce steif aus dem Wagen stieg, seinen Koffer hinter sich herschleifend.
»Mein Name ist Bruce«, sagte er.
»Wir werden jetzt mal eine Zeit lang probieren, wie du mit der Landwirtschaft klarkommst, Bruce.«
»Okay.«
»Ich glaube, es wird dir hier besser gefallen, Bruce. Viel besser.«
»Ich glaube, es wird mir hier besser gefallen«, sagte er. »Viel besser.«
Der Farmmanager blickte ihn prüfend an. »Man hat dir kürzlich einen Haarschnitt verpaßt.«
»Ja, sie haben mir einen Haarschnitt verpaßt.« Bruce hob tastend die Hand, um seinen geschorenen Kopf zu berühren.
»Warum?«
»Sie haben mir die Haare abgeschnitten, weil sie mich im Quartier der Frauen gefunden haben.«
»War das dein erster Haarschnitt?«
»Nein, das war mein zweiter .« Nach einer Pause sagte Bruce: »Einmal bin ich gewalttätig geworden.« Er stand da, den Koffer immer noch in der Hand; der Manager bedeutete ihm, ihn abzusetzen. »Ich habe die Gewaltregel gebrochen.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich habe ein Kissen geworfen.«
»Okay, Bruce«, sagte der Manager. »Komm mit, und ich zeige dir, wo du schlafen wirst. Wir haben hier kein Haupthaus; je sechs Personen haben zusammen eine kleine Hütte. Sie schlafen und kochen und wohnen da, wenn sie nicht gerade arbeiten. Hier gibt es keine Spiele-Sitzungen, nur die Arbeit. Keine weiteren Spiele mehr für dich, Bruce.«
Bruce schien das zu gefallen; ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Magst du Berge?« Der Farmmanager wies nach rechts. »Schau mal da hin. Berge. Kein Schnee, aber Berge. Santa Rosa liegt links; auf den Hängen da wachsen schön große Trauben. Wir bauen keine Trauben an. Verschiedene andere landwirtschaftliche Produkte, aber keine Trauben.«
»Ich mag Berge«, sagte Bruce.
»Schau sie dir an.« Der Manager wies mit der rechten Hand auf die Berge. Bruce schaute nicht hin. »Wir werden dir einen Hut besorgen«, sagte der Manager. »Ohne Hut kannst du mit deinem kahlgeschorenen Kopf nicht draußen auf den Feldern arbeiten. Geh nicht hinaus zur Arbeit, bis wir einen Hut für dich haben. Klar?«
»Ich werde nicht zur Arbeit gehen, bis ich einen Hut habe«, sagte Bruce.
»Die Luft ist gut hier«, sagte der Manager.
»Ich mag Luft«, sagte Bruce.
»Yeah«, sagte der Manager und bedeutete Bruce mit einer Handbewegung, den Koffer wieder aufzunehmen und ihm zu folgen. Er fühlte sich irgendwie gehemmt, als er Bruce anblickte; er wußte nicht, was er sagen sollte. Wenn Leute wie dieser hier ankamen, ging es ihm immer so. »Wir alle mögen die Luft, Bruce. Wirklich. Das ist uns allen gemeinsam, ja.« Er dachte: Wenigstens noch das.
»Werde ich meine Freunde wiedersehen?« fragte Bruce.
»Du meinst, die von da, wo du bisher gewesen bist? In unserer Einrichtung in Santa Ana?«
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