Doch wenn sich dadurch erklären ließ, wieso Valentine Enders Gedanken um so vieles stärker als Miro empfing, blieb die Frage offen, warum Plikt eindeutig so vieles mehr als Valentine empfangen hatte. War es möglich, daß sich Plikt in all den Jahren, die sie Ender beobachtet und bewundert hatte, ohne ihn wirklich zu kennen, enger an Ender gebunden hatte, als sogar Valentine mit ihm verbunden war?
Natürlich hatte sie das. Natürlich. Valentine war verheiratet. Valentine hatte einen Mann. Sie hatte Kinder. Ihre philotische Verbindung zu ihrem Bruder mußte zwangsläufig schwächer geworden sein. Wohingegen Plikt keine vergleichbar starke Bindung eingegangen war. Sie hatte sich völlig Ender verschrieben. Nachdem die Schwarmkönigin also ermöglicht hatte, daß die philotischen Verschlingungen Gedanken übertrugen, mußte Plikt Ender einfach am deutlichsten empfangen. Nichts lenkte sie ab; sie hielt keinen Teil von sich zurück.
Konnte denn überhaupt Novinha, die schließlich mit ihren Kindern verbunden war, solch eine komplette Hingabe für Ender empfinden? Es war unmöglich. Und wenn Ender eine Ahnung von alledem gehabt hätte, hätte es ihn bestimmt gestört. Oder angezogen? Valentine wußte genug von Frauen und Männern, um zu erkennen, daß vollständige Hingabe die verführerischste aller Eigenschaften war. Habe ich etwa eine Rivalin mitgebracht, die Enders Ehe in Gefahr bringt?
Und können Ender und Plikt auch meine Gedanken lesen, selbst in diesem Augenblick?
Valentine fühlte sich zutiefst bloßgestellt und verängstigt. Wie als Antwort, wie um sie zu beruhigen, kehrte die geistige Stimme der Schwarmkönigin zurück und verdrängte alle Gedanken, die Ender vielleicht ausstrahlte.
›Ich weiß, wovor ihr Angst habt. Doch meine Kolonie wird niemanden töten. Wenn wir Lusitania verlassen, können wir alle Descolada-Viren auf unserem Sternenschiff töten.‹
Vielleicht, dachte Ender.
›Wir werden eine Möglichkeit finden. Wir werden den Virus nicht weitertragen. Wir müssen nicht sterben, um die Menschen zu retten. Töte uns nicht, tötet uns nicht.‹
Ich werde dich niemals töten. Enders Gedanke kam wie ein Flüstern, das in den Bitten der Schwarmkönigin fast unterging.
Wir könnten dich sowieso nicht töten, dachte Valentine. Aber du könntest uns mit Leichtigkeit töten. Sobald du deine Sternenschiffe baust. Deine Waffen. Du könntest der menschlichen Flotte gewachsen sein. Diesmal wird sie nicht von Ender kommandiert.
›Niemals. Nie jemanden töten. Nie wir versprochen.‹
Friede, kam Enders Flüstern. Friede. Sei ruhig, still, gelassen. Fürchte nichts. Fürchte keinen Menschen.
Baue kein Sternenschiff für die Schweinchen, dachte Valentine. Baue ein Sternenschiff für dich selbst, weil du die Descolada töten kannst, die du in dir trägst. Aber nicht für sie.
Die Gedanken der Schwarmkönigin wechselten abrupt vom Bitten zu barscher Ablehnung. ›Haben sie kein Recht auf Leben? Ich habe ihnen ein Schiff versprochen. Ich habe euch versprochen, niemals zu töten. Wollt ihr, daß ich Versprechen breche?‹
Nein, dachte Valentine. Sie schämte sich bereits, solch einen Verrat vorgeschlagen zu haben. Oder waren das die Gefühle der Schwarmkönigin? Oder Enders? War sie wirklich sicher, welche Gedanken und Gefühle ihre eigenen waren und welche die eines anderen?
Die Furcht, die sie empfand – es war ihre eigene, da war sie sich fast sicher.
»Bitte«, sagte sie. »Ich will gehen.«
»Eu também«, sagte Miro.
Ender machte einen Schritt auf die Schwarmkönigin zu und streckte eine Hand nach ihr aus. Sie breitete die Arme nicht aus – sie benutzte sie, um das letzte ihrer Opfer in die Eikammer zu rammen. Statt dessen hob die Königin eine Schwinge, drehte sie und schob sie zu Ender hinüber, bis seine Hand schließlich auf der schwarzen Regenbogenoberfläche ruhte.
Berühre sie nicht! rief Valentine stumm. Sie wird dich gefangennehmen! Sie will dich zähmen!
»Still«, sagte Ender laut.
Valentine war nicht sicher, ob er als Antwort auf ihre stummen Schreie sprach oder versuchte, die Schwarmkönigin zum Schweigen zu bringen, die nur etwas zu ihm sagte. Es spielte keine Rolle. Nach einem Augenblick ergriff Ender den Finger eines Krabblers und führte sie in den dunklen Tunnel zurück. Diesmal ging Valentine als zweite, Miro als dritter, und Plikt bildete die Nachhut. So war es Plikt, die den letzten Blick zurück auf die Schwarmkönigin warf; es war Plikt, die die Hand zum Abschied hob.
Den gesamten Rückweg zur Oberfläche versuchte Valentine, dem Geschehen einen Sinn zu entnehmen. Sie hatte immer angenommen, wenn die Menschen von Geist zu Geist kommunizieren und die Vieldeutigkeit der Sprache eliminieren könnten, wäre das Verständnis perfekt, und es gäbe keine unnötigen Konflikte mehr. Statt dessen hatte sie herausgefunden, daß die Sprache die Differenzen zwischen Menschen nicht vergrößerte, sondern sie verkleinerte, die Dinge glättete, so daß die Menschen miteinander zurechtkommen konnten, obwohl sie einander gar nicht wirklich verstanden. Die Illusion des Verstehens ermöglichte den Menschen die Annahme, sie seien einander ähnlicher, als es in Wirklichkeit der Fall war. Vielleicht war die Sprache doch die bessere Möglichkeit.
Sie krochen aus dem Gebäude ins Sonnenlicht, blinzelten und lachten erleichtert. »Kein Spaß«, sagte Ender. »Aber du hast darauf bestanden, Val. Du mußtest sie sofort sehen.«
»Also bin ich töricht«, sagte Valentine. »Ist das neu für dich?«
»Es war wunderschön«, sagte Plikt.
Miro legte sich lediglich im Capim auf den Rücken und bedeckte die Augen mit dem Arm.
Valentine betrachtete ihn, wie er dort lag, und erhaschte einen Blick auf den Mann, der er einmal war, den Körper, den er einmal gehabt hatte. Wie er dort lag, schwankte er nicht; da er schwieg, kamen seine Silben nicht verzögert. Kein Wunder, daß seine Xenologiekollegin sich in ihn verliebt hatte. Ouanda. So tragisch die Entdeckung, daß ihr Vater auch sein Vater war. Das war das schlimmste, was enthüllt wurde, als Ender vor dreißig Jahren auf Lusitania für die Toten sprach. Das war der Mann, den Ouanda verloren hatte; und auch Miro hatte diesen Mann verloren, der er einmal war. Kein Wunder, daß er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Nachdem er seine Geliebte verloren hatte, hielt er es für wertlos. Er bedauerte lediglich, daß er schließlich doch nicht gestorben war. Er hatte weitergelebt, äußerlich genauso gebrochen wie innerlich.
Warum dachte sie an diese Dinge, wenn sie ihn betrachtete? Warum kam es ihr plötzlich so wirklich vor?
Etwa, weil er im Augenblick selbst daran dachte? Erfaßte sie das Bild, das er sich von sich selbst machte? Gab es irgendeine schlummernde Verbindung zwischen ihren Gehirnen?
»Ender«, sagte sie, »was ist dort unten geschehen?«
»Besser, als ich es erhoffte«, sagte Ender.
»Wie bitte?«
»Die Verbindung zwischen uns.«
»Du hast damit gerechnet?«
»Ich habe sie gewollt.« Ender setzte sich auf die Seite des Wagens; seine Füße baumelten in das hohe Gras hinab. »Sie war heiß heute, nicht wahr?«
»Ach ja? Ich habe keine Vergleichsmöglichkeit.«
»Manchmal ist sie so intellektuell – wenn ich nur mit ihr spreche, habe ich den Eindruck, ich würde höhere Mathematik betreiben. Diesmal – wie ein Kind. Natürlich war ich noch nie bei ihr, als sie Königin-Eier legte. Ich glaube, sie hat uns mehr gesagt, als sie eigentlich wollte.«
»Du meinst, sie hat ihr Versprechen nicht ernst gemeint?«
»Nein, Val, sie meint ihre Versprechen immer ernst. Sie weiß nicht, was Lügen sind.«
»Was hast du dann gemeint?«
»Ich sprach von der Verbindung zwischen ihr und mir. Wie sie versuchte, mich zu zähmen. Das war doch wirklich etwas, oder? Sie war einen Augenblick lang richtig wütend, als sie dachte, du wärest vielleicht das Bindeglied gewesen, das sie brauchte. Du weißt, was das für sie bedeutet hätte – sie wären nicht vernichtet worden. Sie hätte mich vielleicht sogar benutzt, um mit der Regierung der Menschen zu kommunizieren. Die Galaxis mit uns zu teilen. Was für eine verlorene Gelegenheit.«
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