»Ja«, sagte Plikt.
»Nur ein bißchen davon«, sagte Valentine.
»Leert euern Geist, so gut ihr könnt«, sagte Ender. »Versucht, euch im Kopf darauf einzustimmen. Das hilft.«
Mittlerweile hatte die Schwarmkönigin schon die nächste Arbeiterin amputiert. Valentine stellte sich vor, auf den wachsenden Haufen von Beinen um die Schwarmkönigin zu treten; in ihrer Phantasie brachen sie wie Äste, mit schrecklichen, knackenden Geräuschen.
›Sehr weich. Beine brechen nicht. Verbiegen.‹
Die Königin beantwortete ihre Gedanken.
›Ihr seid Teil von Ender. Ihr könnt mich hören.‹
Die Gedanken in ihrem Geist wurden klarer, waren nicht mehr so aufdringlich, kontrollierter. Valentine konnte den Unterschied zwischen den Kommunikationsübermittlungen der Schwarmkönigin und ihren eigenen Gedanken spüren.
»Ouvi«, flüsterte Miro. Er hatte endlich etwas gehört. »Fala mais, escuto. Sage mehr, ich höre zu.«
›Philotische Verbindungen. Ihr seid an Ender gebunden. Wenn ich über philotische Verbindung mit ihm spreche, hört ihr mit. Echos. Reflektionen.‹
Valentine versuchte zu ergründen, wieso die Schwarmkönigin in ihrem Geist auf Stark sprach. Dann begriff sie, daß die Schwarmkönigin nichts dergleichen tat – Miro hörte sie in seiner Muttersprache, Portugiesisch, und Valentine hörte in Wirklichkeit gar kein Stark, sie hörte das Englisch, auf dem die Sprache basierte, das amerikanische Englisch, mit dem sie aufgewachsen war. Die Schwarmkönigin schickte keine Sprache zu ihnen aus, sondern Gedanken, und ihre Gehirne entnahmen ihnen in jeweils der Sprache Sinn, die am tiefsten in ihnen verankert war. Als Valentine das Wort Echos gehört hatte, gefolgt von Reflektionen, hatte nicht die Schwarmkönigin um das richtige Wort gerungen, sondern Valentines Verstand hatte nach Worten gesucht, die der Bedeutung entsprachen.
›Gebunden an ihn. Wie mein Volk. Nur daß ihr freien Willen habt. Unabhängige Philoten. Einzelgänger, ihr alle.‹
»Sie macht einen Scherz«, flüsterte Ender. »Das war keine Beurteilung.«
Valentine war für seine Interpretation dankbar. Das Bild, das mit der Phrase Einzelgänger kam, war das eines Elefanten, der einen Mann zu Tode trampelte. Es war ein Bild aus ihrer Kindheit, aus der Geschichte, in der sie das Wort Einzelgänger zum ersten Mal gehört hatte. Es erschreckte sie, dieses Bild, genau, wie es sie als Kind schon erschreckt hatte. Und schon haßte sie die Anwesenheit der Schwarmkönigin in ihrem Verstand. Sie haßte die Art und Weise, wie sie vergessene Alpträume heraufbeschwören konnte. Alles an der Schwarmkönigin war ein Alptraum. Wie konnte sich Valentine jemals vorgestellt haben, dieses Wesen sei ramännisch? Ja, es gab Kommunikation, aber zuviel davon. Kommunikation wie eine Geisteskrankheit.
Und was sie da sagte – daß sie sie so gut verstanden, weil sie philotisch mit Ender verbunden seien. Valentine erinnerte sich daran, was Miro und Jane während des Fluges gesagt hatten – war es möglich, daß ihr philotischer Strang mit dem Enders verknüpft war und durch ihn mit dem der Schwarmkönigin? Aber wie konnte so etwas geschehen sein? Wie konnte Ender überhaupt philotisch mit der Schwarmkönigin verbunden sein?
›Wir haben nach ihm gegriffen. Er war unser Feind. Versuchte, uns zu vernichten. Wir wollten ihn zähmen. Wie einen Einzelgänger.‹
Das Verständnis kam ganz plötzlich, wie eine Tür, die sich öffnete. Die Krabbler waren nicht alle lenksam geboren. Sie konnten eine eigene Identität haben. Oder zumindest einen Kontrollverlust erleben. Und so hatte die Schwarmkönigin eine Möglichkeit entwickelt, sie im Griff zu halten; sie hatte sie philotisch an sich gebunden, um sie unter ihre Kontrolle zu bekommen.
›Ihn gefunden. Konnte ihn nicht binden. Zu stark.‹
Und niemand hatte geahnt, in welcher Gefahr sich Ender befunden hatte. Daß die Schwarmkönigin erwartete, ihn an sich binden, ihn zu einem genauso geistlosen Werkzeug wie einen jeden Krabbler machen zu können.
›Ein Netz für ihn errichtet. Fand das, wonach er sich sehnte. Dachten wir. Kamen hinein. Gaben ihm einen philotischen Kern. Verbanden uns mit ihm. Aber es war nicht genug. Jetzt ihr. Du.‹
Valentine fühlte das Wort wie einen Hammer in ihrem Geist. Sie meint mich. Sie meint mich, mich, mich – sie kämpfte um die Erinnerung, wer ich war. Valentine. Ich bin Valentine. Sie meint Valentine.
›Du warst diejenige. Du. Hätte dich finden müssen. Wonach er sich am meisten sehnte. Nicht die andere Sache.‹
Ihr wurde innerlich übel. War es möglich, daß das Militär die ganze Zeit über recht gehabt hatte? War es möglich, daß nur die grausame Trennung von Valentine und Ender ihn gerettet hatte? Daß, wäre sie bei Ender gewesen, die Krabbler sie hätten benutzen können, um ihn unter Kontrolle zu bekommen?
›Nein. Konnten es nicht. Du bist auch zu stark. Wir waren verloren. Wir waren tot. Er konnte nicht zu uns gehören. Aber auch nicht zu dir. Nicht mehr. Konnten ihn nicht zähmen, aber wir verbanden uns mit ihm.‹
Valentine dachte an das Bild, das ihr auf dem Schiff in den Sinn gekommen war. Von den miteinander verbundenen Menschen, Familien, die durch unsichtbare Bande zusammengehalten wurden, Kinder mit Eltern, Eltern untereinander oder mit ihren Eltern. Ein sich stets veränderndes Netzwerk aus Fäden, die die Menschen zusammenfügten, wo auch immer ihre Treue hingehörte. Nur war es diesmal ein Bild von ihr selbst, verbunden mit Ender. Und dann von Ender, verbunden… mit der Schwarmkönigin… die Schwarmkönigin schüttelte den Ovipositor, die Stränge erzitterten, und am Ende des Stranges hüpfte Enders Kopf auf und ab…
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich von dem Bild zu befreien.
›Wir kontrollieren ihn nicht. Er ist frei. Er kann mich töten, wenn er will. Ich werde ihn nicht aufhalten. Wirst du mich töten?‹
Diesmal war mit dem du nicht Valentine gemeint; sie fühlte, wie die Frage vor ihr zurückwich. Und als die Schwarmkönigin nun auf eine Antwort wartete, spürte sie einen anderen Gedanken in ihrem Geist. So nahe neben ihrem eigenen Denken, daß sie, wäre sie nicht so empfindsam, weil sie darauf wartete, daß Ender antwortete, ihn für ihren eigenen gehalten hätte.
Niemals, sagte der Gedanke in ihrem Geist. Ich werde dich niemals töten. Ich habe dich gern.
Und mit diesem Gedanken kam ein Schimmer echter Gefühle von der Schwarmkönigin. Plötzlich enthielt ihr geistiges Bild keine Spur von Abscheu mehr. Statt dessen wirkte sie majestätisch, königlich, großartig. Die Regenbogen ihrer Schwingen wirkten nicht mehr wie ein Ölfilm auf Wasser; das Licht, das ihre Augen reflektierten, war ein Halo; die funkelnde Flüssigkeit an der Spitze ihres Leibs bestand aus Fäden des Lebens, waren wie Milch an der Warze einer Frauenbrust, beschmiert mit Speichel vom saugenden Mund ihres Kleinkindes. Valentine hatte bis jetzt gegen die Übelkeit angekämpft, doch plötzlich betete sie die Schwarmkönigin fast an.
Sie wußte, daß es Enders Gedanken in ihrem Geist waren; deshalb fühlten sie sich fast wie ihre eigenen an. Und als sie dieses Bild von der Schwarmkönigin sah, wußte sie plötzlich, daß sie die ganze Zeit über recht gehabt hatte, daß das, was sie vor so vielen Jahren als Demosthenes geschrieben hatte, zutraf. Die Schwarmkönigin war Ramann, seltsam, aber trotzdem konnte sie verstehen, und man konnte sie verstehen.
Als das Bild verblich, hörte Valentine, daß jemand weinte. Plikt. In all ihren gemeinsamen Jahren hatte Plikt noch nie eine solche Gefühlsregung gezeigt.
»Bonita«, sagte Miro. Hübsch.
War das alles, was er gesehen hatte? Die Schwarmkönigin war hübsch? Die Kommunikation zwischen Miro und Ender mußte in der Tat schwach sein – aber wieso auch nicht? Er kannte Ender noch nicht so lange oder so gut, während Valentine Ender schon ihr ganzes Leben kannte.
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