»Du wärest wie… wie ein Krabbler gewesen. Ihr Sklave.«
»Klar. Mir hätte es nicht gefallen. Aber all die Leben, die gerettet worden wären… ich war Soldat, nicht wahr? Wenn ein Soldat durch seinen Tod das Leben von Milliarden retten kann…«
»Aber es hätte nicht funktioniert«, sagte Valentine. »Du hast einen unabhängigen Willen.«
»Sicher«, sagte Ender. »Oder zumindest einen unabhängigeren, als die Schwarmkönigin bewältigen kann. Du übrigens auch. Tröstlich, nicht wahr?«
»Ich fühle mich im Augenblick nicht sehr getröstet«, sagte Valentine. »Du warst da unten in meinem Kopf. Und die Schwarmkönigin… ich komme mir vor, als hätte man mir Gewalt angetan.«
Ender schaute überrascht drein. »Bei mir fühlt es sich nie so an.«
»Nun, es ist nicht nur das«, sagte Valentine. »Es war auch anregend. Und erschreckend. Sie ist so… groß in meinem Kopf. Als versuchte ich, jemanden aufzunehmen, der größer ist als ich.«
»Das ist wohl auch der Fall«, sagte Ender. Er wandte sich an Plikt. »War es für dich auch so?«
Zum ersten Mal bemerkte Valentine, wie Plikt Ender ansah, mit zitterndem Blick. Doch Plikt sagte nichts.
»So stark, was?« sagte Ender. Er kicherte und drehte sich zu Miro um.
Erkannte er es nicht? Plikt war von Ender schon besessen gewesen. Nachdem sie ihn nun in ihrem Verstand gehabt hatte, war es vielleicht zuviel für sie. Die Schwarmkönigin hatte davon gesprochen, Einzelgänger zu zähmen. War Plikt vielleicht von Ender ›gezähmt‹ worden? War es möglich, daß sie ihre Seele in der seinen verloren hatte?
Absurd. Unmöglich. Ich hoffe bei Gott, daß dem nicht so ist.
»Komm hoch, Miro«, sagte Ender.
Miro gestattete Ender, ihm auf die Füße zu helfen. Dann stiegen sie in den Wagen und fuhren nach Hause.
Miro hatte ihnen gesagt, daß er nicht zur Messe gehen wollte. Ender und Novinha gingen ohne ihn. Doch kaum waren sie fort, kam es ihm unmöglich vor, im Haus zu bleiben. Er hatte noch immer das Gefühl, daß sich jemand irgendwie im Schatten aufhielt; eine kleine Gestalt, die ihn beobachtete. Umschlossen von einer glatten, harten Rüstung, mit nur zwei klauenähnlichen Fingern an den schlanken Armen, Arme, die abgebissen und fallen gelassen werden konnten wie trockenes Brennholz. Der gestrige Besuch bei der Schwarmkönigin hatte ihn mehr mitgenommen, als er es für möglich gehalten hatte.
Ich bin Xenologe, rief er sich in Erinnerung zurück. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, mich mit Außerirdischen zu befassen. Ich stand dabei und sah zu, wie Ender Menschs Säugetierkörper die Haut abzog, und habe nicht einmal gezuckt, weil ich ein leidenschaftsloser Wissenschaftler bin. Manchmal identifiziere ich mich vielleicht zu sehr mit meinen Studienobjekten. Aber sie bescheren mir keine Alpträume, und ich fange nicht an, sie in den Schatten zu sehen.
Und doch stand er hier vor der Tür des Hauses seiner Mutter, weil es in den Grasfeldern im hellen Sonnenschein eines Sonntag morgens keine Schatten gab, aus denen ein Krabbler ihn anspringen konnte.
Bin ich der einzige, der so empfindet?
Die Schwarmkönigin ist kein Insekt. Sie und ihr Volk sind Warmblütler, genau wie die Pequeninos. Sie atmen und schwitzen wie Säugetiere. Sie tragen vielleicht noch die Widerklänge ihrer evolutionsmäßigen Verbindung mit Insekten in sich, genau wie wir unsere Ähnlichkeit mit Lemuren und Spitzmäusen und Ratten haben, doch sie haben eine helle und wunderschöne Zivilisation geschaffen. Oder zumindest eine dunkle und wunderschöne. Ich sollte sie sehen, wie Ender sie sieht, mit Respekt, Ehrfurcht und Zuneigung.
Und es gelang mir gerade eben, sie zu ertragen.
Es besteht kein Zweifel, daß die Schwarmkönigin ramännisch ist, imstande, uns zu verstehen und zu tolerieren. Die Frage ist, ob ich imstande bin, sie zu verstehen und zu tolerieren. Und ich kann nicht der einzige sein. Ender hat recht damit getan, den meisten Menschen auf Lusitania die Existenz der Schwarmkönigin zu verschweigen. Wenn sie gesehen hätten, was ich gesehen habe, oder auch nur einen Blick auf einen einzigen Krabbler erhaschten, würde sich die Furcht ausbreiten, und das Entsetzen eines jeden würde den Schrecken eines jeden nähren, bis… bis irgend etwas geschieht. Etwas Schlimmes.
Vielleicht sind wir die Varelse. Vielleicht ist der Xenozid in die menschliche Psyche eingebaut wie in die keiner anderen Spezies. Vielleicht wäre es zum Besten des Universums, wenn die Descolada entfesselt werden, sich im ganzen menschlichen Universum ausbreiten und uns einfach auslöschen würde. Vielleicht ist die Descolada Gottes Antwort auf unsere Unwürdigkeit.
Miro fand sich an der Tür der Kirche wieder. In der kühlen Morgenluft stand sie auf. In der Kathedrale hatten sie noch nicht mit dem Sakrament des Abendmahls begonnen. Er schlurfte hinein und suchte sich irgendwo hinten einen Platz. Er hatte nicht den Wunsch, heute mit Christus zu sprechen. Er brauchte einfach den Anblick anderer Menschen. Er mußte von Menschen umgeben sein. Er kniete nieder, bekreuzigte sich und blieb dann mit gesenktem Kopf hocken. Er hätte gebetet, aber im Pai Nosso war nichts, was seine Furcht eindämmen könnte. Gib uns unser täglich Brot? Vergib uns unsere Sünden? Dein Reich komme, wie im Himmel, so auf Erden? Das wäre gut. Gottes Reich, in dem der Löwe neben dem Lamm liegen könnte.
Dann kam ihm ein Bild des heiligen Stephan in den Sinn: Christus, der zur rechten Hand Gottes sitzt. Aber zu seiner linken war die Königin des Himmels. Nicht die heilige Jungfrau, sondern die Schwarmkönigin. An der Spitze ihres Leibes bebte weißer Schleim. Miro krallte die Hände in das Holz der Bank vor ihm. Gott nehme mir diese Vision. Weiche zurück, Feind.
Jemand kam und kniete neben ihm nieder. Er wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Er lauschte auf ein Geräusch, aus dem hervorging, daß es sich bei seiner Gesellschaft um einen Menschen handelte. Doch das Rascheln von Stoff konnten genausogut Schwingenhüllen sein, die über einen gehärteten Thorax glitten.
Er mußte dieses Bild verdrängen. Er öffnete die Augen. Aus den Winkeln sah er, daß der Neuankömmling kniete. Dem schlanken Arm und der Farbe des Ärmels nach zu urteilen handelte es sich um eine Frau.
»Du kannst dich nicht auf ewig vor mir verstecken«, flüsterte sie.
Mit der Stimme stimmte etwas nicht. Zu heiser. Eine Stimme, die hunderttausendmal gesprochen hatte, seit er sie zuletzt gehört hatte. Eine Stimme, die Babys Schlaflieder sang, Liebesschreie ausstieß, Kinder anschrie, sie sollten nach Hause kommen. Eine Stimme, die ihm einmal, als sie jung war, von einer Liebe erzählt hatte, die ewig währen würde.
»Miro, wenn ich dein Kreuz hätte auf mich nehmen können, ich hätte es getan.«
Mein Kreuz? Ist es das, was ich mit mir herumgetragen habe, schwer und unförmig, was mich niederdrückte? Und ich dachte, es sei mein Körper.
»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Miro. Ich habe getrauert – eine lange Zeit. Manchmal trauere ich wohl noch' immer. Dich zu verlieren – unsere Hoffnung für die Zukunft, meine ich – es war ohnehin besser… das habe ich begriffen. Ich habe eine gute Familie gehabt, ein gutes Leben, und dir wird es genauso gehen. Doch dich als meinen Freund zu verlieren, als meinen Bruder, das war am schwersten. Ich war so einsam, ich weiß nicht, ob ich jemals darüber hinweggekommen bin.«
Dich als meine Schwester zu verlieren, war am einfachsten. Ich brauchte nicht noch eine Schwester.
»Du brichst mir das Herz, Miro. Du bist so jung. Du hast dich nicht verändert, das ist am schwersten, du hast dich in dreißig Jahren nicht verändert.«
Es war mehr, als Miro schweigend ertragen konnte. Er hob nicht den Kopf, aber die Stimme. Viel zu laut, als es mitten während der Messe angemessen war, antwortete er: »Ach nein?«
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