»Werden wir sie wirklich sehen?« fragte Miro.
»O ja«, sagte Ender. »Oder besser gesagt – wir werden zumindest in ihrer Anwesenheit sein. Vielleicht berührt sie uns sogar. Aber vielleicht ist es um so besser, je weniger wir sehen. Sie lebt normalerweise in der Dunkelheit, wenn sie nicht kurz vor der Ablage eines Eies steht. Dann muß sie sehen können, und die Arbeiter öffnen Tunnel, damit das Tageslicht hineinfallen kann.«
»Sie haben kein künstliches Licht?« fragte Miro.
»Sie haben nie welches benutzt«, sagte Ender, »nicht einmal auf den Sternenschiffen, die damals während der Krabblerkriege ins Sonnensystem kamen. Sie hassen die Art, wie wir Licht sehen. Für sie ist jede Wärmequelle deutlich sichtbar. Ich glaube, sie arrangieren ihre Wärmequellen sogar in Mustern, die man nur als ästhetisch bezeichnen kann. Thermalmalerei.«
»Warum benutzt sie dann Licht zur Ablage eines Eies?« fragte Valentine.
»Ich würde es nicht unbedingt ein Ritual nennen – die Schwarmkönigin blickt fürchterlich verächtlich auf die menschliche Religion herab. Sagen wir einfach, es ist Teil ihrer genetischen Abstammung. Ohne Sonnenlicht legt sie kein Ei ab.«
Dann waren sie in der Krabblerstadt.
Valentine war nicht überrascht über das, was sie vorfanden – schließlich waren sie und Ender in ihrer Jugend in der ersten Kolonie auf einer ehemaligen Krabblerwelt gewesen. Doch sie wußte, daß das Erlebnis für Miro und Plikt überraschend und fremdartig sein würde, und in der Tat überkam auch sie ein Teil der alten Orientierungslosigkeit. Nicht, daß die Stadt offenkundig seltsam wirkte. Sie bestand aus Gebäuden, die meisten davon niedrig, aber nach denselben Prinzipien wie jedes menschliche Haus errichtet. Seltsam war die Art und Weise, wie sie angelegt waren. Es gab keine Wege und Straßen, keinen Versuch, die Gebäude in eine Richtung anzuordnen. Auch erhoben sie sich nicht gleich hoch aus dem Boden. Einige bestanden nur aus auf der Erde ruhenden Dächern, andere waren sehr hoch. Farbe schien nur zur Konservierung zu dienen – es gab keine Verzierungen. Ender hatte angedeutet, die Schwarmkönigin würde Wärme ästhetisch einsetzen – eine andere Ästhetik gab es ganz bestimmt nicht.
»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Miro.
»Nicht von der Oberfläche aus«, sagte Valentine. »Doch wenn du die Tunnels begehen könntest, würdest du feststellen, daß unterirdisch alles Sinn ergibt. Sie folgen den natürlichen Gesteinsschichten und -strukturen. Die Geologie hat einen gewissen Rhythmus, und die Krabbler können ihn wahrnehmen.«
»Was ist mit den hohen Gebäuden?« fragte Miro.
»Der Grundwasserspiegel ist ihre Grenze nach unten. Wenn sie größere Höhe brauchen, müssen sie nach oben gehen.«
»Was bauen sie denn, das so hoch sein muß?« fragte Miro.
»Keine Ahnung«, sagte Valentine. Sie gingen um ein Gebäude, das wenigstens dreihundert Meter hoch war; in unmittelbarer Nähe konnten sie über ein Dutzend weitere ausmachen.
Zum ersten Mal auf diesem Ausflug ergriff Plikt das Wort. »Raketen«, sagte sie.
Valentine bemerkte, daß Ender lächelte und leicht nickte. Also hatte Plikt seinen eigenen Verdacht bestätigt.
»Wofür?« fragte Miro.
Natürlich, um in den Weltraum zu gehen! hätte Valentine fast gesagt. Doch das war nicht fair – Miro hatte nie auf einer Welt gelebt, die um den ersten Schritt ins All kämpfte. Für ihn war das Verlassen des Planeten gleichbedeutend damit, den Shuttle zu einer Orbitstation zu nehmen. Doch der einzige Shuttle, der den Menschen Lusitanias zur Verfügung stand, würde kaum ausreichen, das erforderliche Material für den Bau eines größeren raumtauglichen Fahrzeugs in die Umlaufbahn zu bringen. Und selbst, wenn der Shuttle dazu imstande gewesen wäre, hätte die Schwarmkönigin wohl kaum die Menschen um Hilfe gebeten.
»Baut sie eine Raumstation?« fragte Valentine.
»Ich glaube schon«, sagte Ender. »Aber so viele Raketen, und so große – ich glaube, sie will sie in einem Rutsch bauen. Sie will wahrscheinlich die Raketen selbst ausschlachten. Was glaubt ihr, was sie vorhat?«
Valentine hätte fast mit einem überraschten Ausruf geantwortet – woher soll ich das wissen? Dann begriff sie, daß er sie gar nicht gefragt hatte. Denn fast sofort gab er selbst die Antwort. Was bedeutete, daß er den Computer in seinem Ohr gefragt haben mußte. Nein, nicht den ›Computer‹. Jane. Er fragte Jane. Valentine konnte sich noch immer kaum an die Vorstellung gewöhnen, daß sich zwar nur vier Personen in dem Wagen befanden, aber eine fünfte anwesend war, die durch die Juwele, die sowohl Ender als auch Miro trugen, sah und mithörte.
»Sie könnte es alles auf einmal schaffen«, sagte Ender. »Nach dem zu urteilen, was wir über die chemischen Emissionen hier wissen, hat die Schwarmkönigin genug Metall geschmolzen, um nicht nur eine Raumstation zu bauen, sondern auch zwei kleine Sternenschiffe mit großer Reichweite, wie die erste Krabblerexpedition sie benutzte. Ihre Version eines Kolonistenschiffs.«
»Bevor die Flotte eintrifft«, sagte Valentine. Plötzlich begriff sie. Die Schwarmkönigin bereitete sich auf die Auswanderung vor. Sie wollte nicht dulden, daß ihre Spezies auf einem einzigen Planeten gefangen war, wenn der Chirurg wieder kam.
»Du verstehst das Problem«, sagte Ender. »Sie wird uns nicht sagen, was sie tut. Also müssen wir uns auf das verlassen, was Jane beobachtet und was wir vermuten können. Und was ich vermute, ergibt kein sehr hübsches Bild.«
»Wieso sollten die Krabbler nicht den Planeten verlassen?« fragte Valentine.
»Nicht nur die Krabbler«, sagte Miro.
Valentine stellte die zweite Verbindung her. Deshalb hatten die Pequeninos der Schwarmkönigin die Erlaubnis gegeben, ihre Welt so schlimm zu verseuchen. Deshalb waren zwei Schiffe geplant, direkt von Anfang an. »Ein Schiff für die Schwarmkönigin und eins für die Pequeninos.«
»Das haben sie vor«, sagte Ender. »Aber wie ich es sehe – zwei Schiffe für die Descolada.«
»Nossa Senhora«, flüsterte Miro.
Valentine fühlte, wie ein Schaudern sie durchlief. Es war eine Sache, wenn die Schwarmkönigin die Rettung ihrer Spezies plante. Aber es war eine ganz andere, daß sie den tödlichen, anpassungsfähigen Virus mit auf andere Welten nahm.
»Du verstehst mein Dilemma«, sagte Ender. »Du verstehst, warum sie mir nicht sagt, was sie vorhat.«
»Aber du könntest sie sowieso nicht aufhalten, oder?« fragte Valentine.
»Er könnte die Kongreßflotte warnen«, sagte Miro.
Richtig. Dutzende schwerbewaffneter Sternenschiffe, die sich um Lusitania zusammenzogen – wenn sie von zwei Sternenschiffen erfuhren, die Lusitania verlassen wollten, wenn sie ihre ursprünglichen Flugbahnen kannten, konnten sie sie abfangen. Vernichten.
»Das darfst du nicht«, sagte Valentine.
»Ich kann sie nicht aufhalten, und ich kann sie nicht ziehen lassen«, sagte Ender. »Hielte ich sie auf, ginge ich das Risiko ein, die Krabbler wie auch die Schweinchen zu vernichten. Ließe ich sie ziehen, ginge ich das Risiko ein, die gesamte Menschheit zu vernichten.«
»Du mußt mit ihnen sprechen. Du mußt irgendeine Übereinkunft erzielen.«
»Was wäre eine Übereinkunft mit uns wert?« fragte Ender. »Wir sprechen nicht für die Menschheit im allgemeinen. Und wenn wir auf Drohungen zurückgreifen, wird die Schwarmkönigin einfach all unsere Satelliten und wahrscheinlich auch unsere Verkürzer zerstören. Vielleicht tut sie das ohnehin nur um ganz sicherzugehen.«
»Dann wären wir wirklich abgeschnitten«, sagte Miro.
»Von allem«, sagte Ender.
Valentine brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, daß sie an Jane dachten. Ohne einen Verkürzer konnten sie nicht mehr mit ihr sprechen. Und ohne die Satelliten im Orbit um Lusitania wären Janes Augen im All blind.
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