»Ich gehe zu Fuß«, sagte Miro. »Ich nehme den langen Weg. Geht ihr anderen schon vor.«
Novinha und Ela wollten protestieren, doch Miro sah, daß Andrew die Hand auf Novinhas Arm legte. Was Ela betraf, so ließ Quims Arm um ihre Schulter sie verstummen.
»Komm direkt nach Hause«, sagte Ela. »Wie lange du auch brauchst, du kommst nach Hause.«
»Wohin sonst?« fragte Miro.
Valentine wußte nicht, was sie von Ender halten sollte. Es war erst ihr zweiter Tag auf Lusitania, doch sie hatte schon ohne jeden Zweifel mitbekommen, daß etwas nicht in Ordnung war. Nicht, daß Ender keinen Grund zur Besorgnis gehabt hätte. Er hatte ihr erklärt, welche Probleme die Xenobiologen mit der Descolada hatten, welche Spannungen es zwischen Grego und Quara gab, und natürlich war da immer die Flotte des Kongresses, der Tod, der über ihnen im Himmel schwebte. Doch Ender hatte sich oft mit Problemen und Spannungen auseinandersetzen müssen, viele Male in seinen Jahren als Sprecher für die Toten. Er hatte sich in die Probleme von Nationen und Familien gestürzt, von Gemeinden und einzelnen Menschen, hatte darum gekämpft, sie zu verstehen und die Krankheiten des Herzens dann zu heilen und zu läutern. Nie hatte er sich so benommen, wie er sich jetzt benahm.
Oder vielleicht doch, einmal.
Als sie Kinder waren und Ender darauf vorbereitet wurde, die Flotten zu kommandieren, die gegen alle Krabbler-Welten ausgeschickt wurden, hatten sie Ender für eine gewisse Zeit zur Erde zurückgebracht – die Ruhe vor dem Sturm, wie sich herausstellen sollte. Ender und Valentine waren seit seinem fünften Lebensjahr voneinander getrennt, und es durfte nicht einmal ein unzensierter Briefwechsel zwischen ihnen stattfinden. Dann änderten sie ihre Politik plötzlich und brachten Valentine zu ihm. Er wurde auf einem großen Privatsitz in der Nähe ihrer Heimatstadt gefangengehalten und verbrachte seine Tage damit, zu schwimmen und sich völlig untätig auf einem kleinen See treiben zu lassen.
Zuerst hatte Valentine gedacht, es sei alles in Ordnung, und sie war lediglich froh, ihn endlich wiederzusehen. Doch bald begriff sie, daß etwas ganz und gar nicht stimmte. Doch in jenen Tagen hatte sie Ender nicht so gut gekannt – sie war schließlich über sein halbes Leben lang von ihm getrennt gewesen. Doch sie wußte, daß es ihm gar nicht ähnlich sah, so bedrückt zu wirken. Nein, das war es eigentlich gar nicht. Er war nicht bedrückt, er war untätig. Er hatte sich von der Welt gelöst. Und ihre Aufgabe war es, ihn wieder mit ihr zu verbinden. Ihn zurückzuholen und ihm seinen Platz im Netzwerk der Menschheit zu zeigen.
Weil sie Erfolg hatte, konnte er schließlich wieder ins All gehen und die Flotten kommandieren, die die Krabbler völlig vernichteten. Seit dieser Zeit schien seine Verbindung mit der Menschheit ungefährdet.
Doch nun war sie wieder fast ein halbes Leben von ihm getrennt gewesen. Fünfundzwanzig Jahre für sie, dreißig für ihn. Und wieder wirkte er losgelöst. Sie musterte ihn, während er sie und Miro und Plikt mit dem Wagen ausführte, hinweg über die endlosen Capimebenen.
»Wir sind wie ein kleines Boot auf dem Ozean«, sagte Ender.
»Eigentlich nicht«, sagte sie und erinnerte sich an die Zeit, da Jakt sie auf einem der kleinen Boote mitgenommen hatte, mit denen die Netze ausgelegt wurden. Die drei Meter hohen Wellen hatten sie hochgehoben und dann wieder in den Graben stürzen lassen – auf dem großen Fischerboot hatten diese Wellen sie kaum geschaukelt, während sie bequem auf dem Meer lagen, doch in dem winzigen Beiboot waren sie überwältigend. Buchstäblich atemberaubend – sie hatte von ihrem Sitz auf Deck hinabgleiten und sich mit beiden Armen an der Bretterbank festhalten müssen, bevor sie wieder zu Atem kam. Es gab keinen Vergleich zwischen dem schweren, rollenden Ozean und dieser üppigen Grasebene.
Andererseits… für Ender vielleicht doch. Wenn er die Capimebene sah, sah er in ihr vielleicht den Descolada-Virus, der sich unentwegt anpaßte, um die Menschheit und alle anderen Spezies ihrer Welt zu vernichten. Vielleicht rollte und wogte diese Ebene für ihn genauso brutal wie der Ozean.
Die Seemänner hatten sie ausgelacht, nicht spöttisch, sondern zärtlich, wie Eltern, die über die Ängste eines Kindes lachen. »Dieser Seegang ist noch gar nichts«, sagten sie. »Sie müßten das mal in zwölf Meter hohen Wellen machen.«
Ender war nach außen hin so ruhig wie damals die Seemänner. Ruhig, losgelöst. Er unterhielt sich mit ihr und Miro und der stillen Plikt, hielt aber noch immer etwas zurück. Stimmt etwas nicht zwischen Ender und Novinha? Valentine hatte sie nicht lange genug zusammen gesehen, um zu wissen, was natürlich zwischen ihnen war – auch wenn es keine offensichtlichen Streitigkeiten gab. Also war Enders Problem vielleicht eine wachsende Barriere zwischen ihm und der Gemeinde von Lusitania. Das war eine Möglichkeit. Valentine erinnerte sich genau, wie schwer es für sie gewesen war, von den Trondheimern akzeptiert zu werden, und sie war mit einem Mann von gewaltigem Ansehen unter ihnen verheiratet gewesen. Wie war es für Ender, der mit einer Frau verheiratet war, deren gesamte Familie sich schon vom Rest Lusitanias entfremdet hatte? Konnte es sein, daß er diesen Ort nicht so grundlegend geheilt hatte, wie alle annahmen?
Unmöglich. Als sich Valentine heute morgen mit Kovano Zeljezo, dem Bürgermeister, und dem alten Bischof Peregrino getroffen hatte, hatten sie echte Zuneigung für Ender gezeigt. Valentine hatte an zu vielen Konferenzen teilgenommen, um nicht den Unterschied zwischen formeller Höflichkeit, politischer Scheinheiligkeit und echter Freundschaft zu kennen. Wenn sich Ender diesen Leuten fremd fühlte, lag es nicht an ihnen.
Ich deute zuviel in die Sache hinein, dachte Valentine. Wenn Ender mir so seltsam und fremd vorkommt, liegt es daran, daß wir so lange getrennt waren. Oder vielleicht daran, daß er sich neben Miro, diesem zornigen jungen Mann, gehemmt vorkommt; oder vielleicht ist es Plikt mit ihrer stummen, berechnenden Hingabe an Ender Wiggin, die dafür sorgt, daß er sich von uns fernhält. Oder es ist vielleicht nur mein Beharren, daß ich heute die Schwarmkönigin sehen will, noch bevor wir uns mit einem Führer der Schweinchen treffen. Es besteht kein Grund, außerhalb unserer gegenwärtigen Begleiter nach Ursachen für seine Losgelöstheit zu suchen.
Sie machten die Stadt der Schwarmkönigin zuerst aufgrund der Rauchsäule ausfindig. »Fossile Treibstoffe«, sagte Ender. »Sie verbrennt sie mit abscheulicher Geschwindigkeit. Normalerweise würde sie das niemals tun – die Schwarmköniginnen behandeln ihre Welten immer mit großer Sorgfalt und würden normalerweise niemals solch eine Verschwendung und solch einen Gestank erzeugen. Aber sie ist in großer Eile, und Mensch sagt, sie hätten ihr aus Notwendigkeit die Erlaubnis gegeben, solch eine Umweltverschmutzung hervorzurufen.«
»Aus welcher Notwendigkeit?« fragte Valentine.
»Mensch will es nicht sagen, und die Schwarmkönigin auch nicht, doch ich habe meine Vermutungen, und ihr werdet euch wohl auch euern Teil denken.«
»Hoffen die Schweinchen etwa, in einer einzigen Generation auf den Zug einer voll technisierten Gesellschaft zu springen, und verlassen sich dabei auf die Arbeit der Schwarmkönigin?«
»Wohl kaum«, sagte Ender. »Dafür sind sie viel zu konservativ. Sie wollen alles wissen, was es zu wissen gibt – aber sie sind nicht schrecklich bedacht darauf, sich mit Maschinen zu umgeben. Vergiß nicht, die Bäume der Wälder geben ihnen kostenlos und sanftmütig jedes nützliche Werkzeug. Was wir Industrie nennen, ist für sie immer noch die reinste Brutalität.«
»Was dann? Warum all dieser Rauch?«
»Frag sie doch«, sagte Ender. »Vielleicht ist sie zu dir ehrlich.«
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