Auch Olhado stand da, die silbernen Augen strahlend, den Arm um eine wunderschöne Frau gelegt, umgeben von sechs Kindern. Obwohl alle Kinder ganz natürlich dreinblickten, hatten sie alle den losgelösten Ausdruck ihres Vaters angenommen. Sie beobachteten nicht, sie schauten einfach. Bei Olhado war das ganz natürlich gewesen; Miro kam der störende Gedanke, daß Olhado vielleicht eine Familie von Gaffern gezeugt hatte, wandelnden Aufnahmegeräten, die alles Geschehen aufzeichneten, um es später wieder abzuspielen, sich aber niemals in etwas verwickeln ließen. Aber nein, das mußte eine Täuschung sein. Miro war nie mit Olhado ausgekommen, und so bewirkte die Ähnlichkeit seiner Kinder mit ihm, daß Miro sich auch in deren Nähe unbehaglich fühlte. Die Mutter war dafür um so hübscher. Noch keine vierzig Jahre alt. Wie alt war sie gewesen, als Olhado sie geheiratet hatte? Was für eine Frau war sie, daß sie einen Mann mit künstlichen Augen akzeptierte? Zeichnete Olhado ihre Liebesspiele auf und spielte sie später wieder ab, damit sie wußte, wie sie in seinen Augen aussah?
Augenblicklich schämte sich Miro dieses Gedankens. Ist das alles, was mir einfällt, wenn ich Olhado sehe – seine Behinderung? Nach all den Jahren, die ich ihn kenne? Wie kann ich dann erwarten, daß sie bei mir etwas anderes sehen als meine Behinderungen, wenn sie mich betrachten?
Es war eine gute Idee gewesen, diesen Ort zu verlassen. Ich bin froh, daß Andrew Wiggin es vorgeschlagen hat. Der einzige Teil, der keinen Sinn ergibt, ist meine Rückkehr. Warum bin ich hier?
Fast gegen seinen Willen drehte sich Miro zu Valentine um. Sie lächelte ihm zu, legte den Arm und ihn und drückte ihn. »Es ist gar nicht so schlecht«, sagte sie.
Nicht so schlecht wie was?
»Ich habe nur noch den einen Bruder, der mich begrüßen kann«, sagte sie. »Zu deiner Begrüßung ist deine ganze Familie gekommen.«
»Genau«, sagte Miro.
Erst dann meldete sich Jane; er vernahm ihre Stimme im Ohr. »Nicht die ganze.«
Halt die Klappe, sagte Miro stumm.
»Nur einen Bruder?« sagte Andrew Wiggin. » Nur mich?« Der Sprecher für die Toten trat vor und umarmte seine Schwester. Doch entdeckte Miro in dieser Geste etwa Unbeholfenheit? War es möglich, daß Valentine und Andrew Wiggin verklemmt miteinander umgingen? Lachhaft. Die kühne, ungestüme Valentine und Wiggin, der Mann, der in ihr Leben eingedrungen war und ohne die geringste dá licença ihre Familie neu gebildet hatte. Konnten sie furchtsam sein? Konnten sie sich entfremdet haben?
»Du bist elend gealtert«, sagte Andrew. »Dünn wie ein Lattenzaun. Sorgt Jakt nicht anständig für dich?«
»Kocht Novinha nicht?« fragte Valentine. »Und du siehst dümmer denn je aus. Ich bin gerade noch rechtzeitig eingetroffen, um Zeuge deiner kompletten geistigen Umwandlung in eine Pflanze zu werden.«
»Und ich dachte, du seiest gekommen, um die Welt zu retten.«
»Das Universum. Aber dich zuerst.«
Sie legte erneut einen Arm um Miro und den anderen um Andrew. »So viele von euch«, sagte sie dann zu den anderen, »doch ich habe das Gefühl, euch alle zu kennen. Ich hoffe, daß ihr bei mir und meiner Familie bald ebenso empfinden werdet.«
So freundlich. Und ihre Fähigkeit, irgendwie zu bewirken, daß sich andere Menschen in ihrer Gegenwart wohl fühlen. Sogar ich, dachte Miro. Sie hat die Menschen einfach im Griff. Genau wie Andrew Wiggin. Hat sie es von ihm gelernt, oder er von ihr? Oder war diese Eigenschaft ihrer Familie angeboren? Schließlich war Peter der höchste Manipulator aller Zeiten gewesen, der ursprüngliche Hegemon. Was für eine Familie. So ungewöhnlich wie meine. Nur, daß die ihre wegen ihres Genies ungewöhnlich ist und die meine wegen der Schmerzen, die wir so viele Jahre miteinander geteilt haben, wegen der Entstellung unserer Seelen. Und ich bin der seltsamste, der, dem der größte Schaden zugefügt wurde. Andrew Wiggin kam, um die Wunden zwischen uns zu heilen, und hat seine Sache gut gemacht. Doch die inneren Entstellungen – können die jemals geheilt werden?
»Wie wäre es mit einem Picknick?« fragte Miro.
Diesmal lachten alle. Wie war das, Andrew, Valentine? Kann ich auch mit ihnen umgehen? Trage ich dazu bei, daß alles glatt verläuft? Habe ich allen geholfen, so zu tun, als wären sie froh, mich zu sehen, als hätten sie irgendeine Ahnung, wer ich wirklich bin?
»Sie wollte kommen«, sagte Jane in Miros Ohr.
Halt die Klappe, sagte Miro erneut. Ich hätte sowieso nicht gewollt, daß sie kommt.
»Aber sie wird dich später sehen.«
Nein.
»Sie ist verheiratet. Sie hat vier Kinder.«
Das bedeutet mir jetzt nichts mehr.
»Sie hat seit Jahren nicht mehr deinen Namen im Schlaf gerufen.«
Ich dachte, du wärest meine Freundin.
»Das bin ich auch. Ich kann deine Gedanken lesen.«
Du bist eine alte Hexe, die sich in alles einmischt, und du kannst gar nichts lesen.
»Sie wird dich morgen früh besuchen. Im Haus deiner Mutter.«
Ich werde nicht dort sein.
»Du glaubst, du kannst vor ihr davonlaufen?«
Während seines Gesprächs mit Jane hatte Miro nichts von dem gehört, was die anderen um ihn herum sagten, doch das spielte keine Rolle. Valentines Mann und Kinder waren aus dem Schiff gekommen, und sie stellte sie allen vor. Besonders ihrem Onkel natürlich. Es überraschte Miro, wie ehrfürchtig sie mit ihm sprachen. Aber andererseits wußten sie natürlich, wer er wirklich war. Ender der Xenozide, ja, aber auch der Sprecher für die Toten, der Autor der Schwärmkönigin und des Hegemon. Miro wußte das jetzt natürlich auch, doch als er Wiggin kennenlernte, hatte Feindseligkeit zwischen ihnen geherrscht – er war nur ein umherziehender Sprecher für die Toten, der Priester einer humanistischen Religion, der es darauf abgesehen zu haben schien, Miros Familie von innen nach außen zu kehren. Was er auch getan hatte. Ich glaube, ich hatte mehr Glück als sie, dachte Miro. Ich lernte ihn als Mensch kennen, bevor ich erfuhr, daß er eine große Gestalt der Menschheitsgeschichte ist. Sie werden ihn wahrscheinlich niemals so kennen wie ich.
Und ich kenne ihn eigentlich überhaupt nicht. Ich kenne niemanden, und niemand kennt mich. Wir verbringen unser Leben damit, unentwegt zu vermuten, was in einem anderen vorgeht, und wenn wir Glück haben und richtig geraten haben, glauben wir, jemanden zu ›verstehen‹. So ein Unsinn. Selbst ein Affe an einem Computer wird dann und wann ein richtiges Wort eingeben.
Ihr kennt mich nicht, keiner von euch, sagte er stumm. Am wenigsten die alte Hexe, die sich in alles einmischt und in meinem Ohr wohnt. Hast du das gehört?
»Wie könnte ich dieses jämmerliche Wimmern überhören?«
Andrew legte das Gepäck auf den Wagen. Es war nur Platz für ein paar Passagiere. »Miro – willst du mit mir und Novinha fahren?«
Bevor er antworten konnte, hatte Valentine seinen Arm ergriffen. »Oh, tu das nicht«, sagte sie. »Gehe mit mir und Jakt. Wir haben so lange beengt auf dem Schiff gelebt.«
»Richtig so«, sagte Andrew. »Seine Mutter hat ihn fünfundzwanzig Jahre lang nicht gesehen, aber ihr wollt ihn auf einem Spaziergang mitnehmen. Ihr seid mir ja von der rücksichtsvollen Sorte.«
Andrew und Valentine behielten den hänselnden Tonfall bei, den sie von Anfang an zwischen sich begründet hatten, so daß sie seine Entscheidung, ganz gleich, wie sie ausfiel, lachend als eine Wahl zwischen den beiden Wiggins darstellen würden. Er mußte nicht sagen: Ich möchte fahren, weil ich ein Krüppel bin. Und er hatte keine Entschuldigung dafür, beleidigt zu sein, weil ihm jemand eine besondere Behandlung zukommen lassen wollte. Es geschah so feinfühlig, daß sich Miro fragte, ob Valentine und Andrew vorab darüber gesprochen hatten. Vielleicht mußten sie aber auch gar nicht über solche Dinge sprechen. Vielleicht hatten sie so viele Jahre gemeinsam verbracht, daß sie wußten, wie sie zusammenwirken mußten, um die Dinge für andere Menschen zu glätten, ohne großartig darüber nachdenken zu müssen. Wie Schauspieler, die schon so oft gemeinsam die gleichen Rollen gespielt hatten, daß sie ohne die geringste Verwirrung improvisieren konnten.
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