»Es mag ein Klischee sein«, sagte Jane, »aber das heißt nicht, daß es nicht wahr sein kann.«
Kapitel 18
Der Gott von Weg
›Ich konnte die Veränderungen im Descolada-Virus erst schmecken, als er verschwunden war.‹
›Er paßte sich dir an?‹
›Er fing an, wie ich selbst zu schmecken. Er hatte die meisten meiner genetischen Moleküle in seine Struktur aufgenommen.‹
›Vielleicht bereitete er sich darauf vor, dich umzuwandeln, wie er uns umgewandelt hat.‹
›Doch als er eure Vorfahren gefangennahm, paarte er sie mit den Bäumen, in denen sie lebten. Womit wären wir gepaart worden?‹
›Welche anderen Lebensformen gibt es auf Lusitania, abgesehen von denen, die sich bereits zu Paaren zusammengefunden haben?‹
›Vielleicht wollte die Descolada uns mit einem bereits existierenden Paar kombinieren. Oder ein Paarmitglied durch uns ersetzen.‹
›Oder vielleicht wollte sie dich mit den Menschen paaren.‹
›Jetzt ist sie tot. Was sie auch geplant hat, es wird niemals geschehen.‹
›Was für ein Leben hättest du geführt? Hättest du dich mit männlichen Menschen gepaart?‹
›Das ist abscheulich.‹
›Oder vielleicht würdest du lebende Nachkommen gebären, wie die Menschen es tun?‹
›Höre auf, diesen widerlichen Gedanken nachzuhängen.‹
›Es waren nur Spekulationen.‹
›Die Descolada ist verschwunden. Du bist frei von ihr.‹
›Aber niemals frei von dem, was wir hätten sein sollen. Ich glaube, daß wir vernunftbegabt waren, bevor die Descolada kam. Ich glaube, daß unsere Geschichte älter ist als die Raumschiffe, die die Descolada hierher brachten. Ich glaube, daß irgendwo in unseren Genen das Geheimnis des Pequenino-Lebens liegt, als wir noch Baumbewohner waren und nicht das Larvenstadium im Leben vernunftbegabter Bäume.‹
›Wenn du kein drittes Leben hättest, Mensch, wärest du jetzt tot.‹
› Jetzt ja, aber zu Lebzeiten hätte ich nicht nur ein Bruder, sondern ein Vater sein können. Zu Lebzeiten hätte ich überall hin reisen können, ohne mir Sorgen darüber zu machen, zu meinem Wald zurückkehren zu müssen, wenn ich mich jemals paaren wollte. Ich hätte niemals Tag um Tag an derselben Stelle verwurzelt gestanden und mein Leben praktisch durch die Geschichten gelebt, die die Brüder mir bringen.‹
›Dann reicht es dir nicht, von der Descolada frei zu sein? Mußt du von all ihren Folgen frei sein, bevor du zufrieden sein kannst?‹
›Ich bin immer zufrieden. Ich bin, was ich bin, ganz gleich, wie ich es geworden bin.‹
›Aber noch immer nicht frei.‹
›Sowohl als Männer wie auch als Gattinnen müssen wir noch immer unser Leben verlieren, um unsere Gene weitergeben zu können.‹
›Armer Narr. Glaubst du etwa, daß ich, die Schwarmkönigin, frei bin? Glaubst du, daß menschliche Eltern, sobald sie Kinder bekommen haben, jemals wieder wahrhaft frei sind? Wenn das Leben für dich Unabhängigkeit bedeutet, die vollkommen uneingeschränkte Freiheit, das zu tun, was du willst, dann lebt kein einziges vernunftbegabtes Wesen. Keiner von uns ist jemals völlig frei.‹
›Schlage Wurzeln, mein Freund, und dann verrate mir, wie unfrei du warst, als du noch keine Wurzeln geschlagen hattest.‹
Wang-mu und Meister Han warteten gemeinsam am Flußufer, etwa einhundert Meter von ihrem Haus entfernt. Jane hatte ihnen gesagt, daß sie bald jemand von Lusitania besuchen würde. Beide wußten, es bedeutete, daß der Überlichtflug verwirklicht worden war, doch darüber hinaus konnten sie nur annehmen, daß sich ihr Besucher in einer Umlaufbahn um Weg befand, eine Fähre zum Planeten genommen hatte und nun zu ihnen unterwegs war.
Statt dessen erschien vor ihnen am Flußufer ein lächerlich kleines Metallgebilde. Die Tür wurde geöffnet. Ein Mann kam heraus. Ein junger, gutaussehender Mann. Er hielt eine Glasröhre in der Hand.
Und er lächelte.
Wang-mu hatte noch nie solch ein Lächeln gesehen. Er sah direkt in sie hinein, als gehöre ihm ihre Seele. Als kenne er sie besser, als sie sich selbst kannte.
»Wang-mu«, sagte er leise. »Königliche Mutter des Westens. Und Fei-tzu, der große Lehrer des Weges.«
Er verbeugte sich. Sie erwiderten die Geste.
»Ich will mich nicht lange aufhalten«, sagte er und gab Meister Han das Reagenzglas. »Hier ist der Virus. Sobald ich fort bin, trinkt ihr das. Ich glaube, es schmeckt abscheulich, aber trinkt es trotzdem. Dann schließt Kontakt mit so vielen Leuten wie möglich, in euerm Haus und in der benachbarten Stadt. Euch bleiben etwa sechs Stunden, bevor ihr euch krank fühlt. Mit etwas Glück dürftet ihr am Ende des zweiten Tages kein einziges Symptom mehr haben. Kein einziges.« Er grinste. »Keine kleinen Lufttänze mehr für Sie, Meister Han.«
»Keine Unterwürfigkeit, für keinen von uns«, sagte Han Fei-tzu. »Wir sind bereit, unsere Nachricht sofort zu verbreiten.«
»Erzählt keinem davon, bis ihr die Injektion schon eine Weile verbreitet habt.«
»Natürlich«, sagte Meister Han. »Ihre Weisheit lehrt mich, vorsichtig zu sein, obwohl mein Herz mich auffordert, mich zu beeilen und die glorreiche Revolution zu verkünden, die diese gnädige Seuche uns bringen wird.«
»Ja, sehr schön«, sagte der Mann. Dann wandte er sich an Wang-mu. »Aber du brauchst den Virus nicht, nicht wahr?«
»Nein, Herr«, sagte Wang-mu.
»Jane sagt, daß du zu den intelligentesten Menschen gehörst, die sie je gesehen hat.«
»Jane ist zu gütig«, erwiderte Wang-mu.
»Nein, sie hat mir die Daten gezeigt.« Er musterte sie von oben bis unten. Ihr gefiel nicht, wie er mit diesem einzigen langen Blick Besitz von ihren gesamten Körper ergriff. »Du mußt die Seuche nicht abwarten. Es wäre sogar besser, wenn du gehst, bevor sie ausbricht.«
»Gehen?«
»Was hält dich hier noch?« fragte der Mann. »Ganz gleich, wie revolutionär es hier zugehen wird, du wirst noch immer ein Dienstmädchen und das Kind einfacher Eltern sein. An so einem Ort könntest du dein ganzes Leben damit verbringen, dagegen anzukämpfen, und wärest am Ende noch immer nicht mehr als eine Dienerin mit einem überraschend guten Verstand. Komm mit mir, und du wirst die Geschichte verändern. Geschichte machen.«
»Mit Ihnen gehen und was tun?«
»Natürlich den Kongreß stürzen. Seine Mitglieder auf die Knie zwingen. Alle Kolonialwelten zu gleichberechtigten Mitgliedern der Politik machen, die Korruption ausmerzen, alle üblen Geheimnisse bekanntgeben und die Lusitania-Flotte nach Hause rufen, bevor sie ein scheußliches Verbrechen begehen kann. Allen ramännischen Rassen ihre Rechte geben. Frieden und Freiheit.«
»Und Sie haben vor, das alles zu tun?«
»Nicht allein«, sagte er.
Sie war erleichtert.
»Ich werde dich haben.«
»Wozu?«
»Um zu schreiben. Zu sprechen. All das zu tun, wofür ich dich brauche.«
»Aber ich habe keine Erziehung, Herr. Meister Han hat gerade erst damit angefangen, mich zu unterweisen.«
»Wer sind Sie?« fragte Meister Han. »Wie können Sie erwarten, daß ein bescheidenes Mädchen einfach mit einem Fremden mitgeht?«
»Ein bescheidenes Mädchen? Die ihren Körper dem Vorarbeiter gibt, um eine Chance zu bekommen, in die Nähe eines gottberührten Mädchens zu gelangen, das sie vielleicht als geheime Magd einstellen wird? Nein, Meister Han, sie mag vielleicht das Benehmen eines bescheidenen Mädchens an den Tag legen, aber nur, weil sie ein Chamäleon ist. Sie verändert ihre Farbe, wann immer sie glaubt, daß es ihr weiterhelfen wird.«
»Ich bin keine Lügnerin, Herr«, sagte sie.
Читать дальше