Wir waren nicht ohne weiteres in der Lage, die Kammer zu betreten. Das war ziemlich klar.
Der Tod von 408b hatte uns zu sehr aus der Fassung gebracht, als daß wir sofort weitermachen konnten. Wir zogen uns in die Fähre zurück, wo Mirrik auf Dr. Scheins Bitte hin einen Gedächtnisgottesdienst für den Paläotechnologen durchführte. Nicht einmal Mirrik hatte eine Vorstellung davon, welche Art von Religion sie drüben auf Bellatrix XIV haben, und deshalb veranstaltete er eine paradoxistische Messe, knapp und irgendwie bewegend. Ich will nicht versuchen, an dieser Stelle alles zu wiederholen. Ich kann mir nur eine Stelle davon ins Gedächtnis zurückrufen, die paradoxistischste von allen: „Deine Zeit hat ein Ende, uns zu lehren, daß die Zeit endlos ist. Du verkürzt unsere Tage, auf daß unsere Tage länger werden. Du machst uns sterblich, auf daß die Ewigkeit unser sei. Vergib uns, o Vater, wie auch wir Dir vergeben. Amen.“
Eine Stunde später kehrten wir vorsichtig zur Gruft zurück.
Unsere Stimmung war natürlich düster und niedergedrückt. Doch wir bezweifelten, ob 408b gewollt hätte, daß wir lange über ihn trauerten, wenn wichtige Arbeit auf uns wartete. Wir hatten Scheinwerfer in der Ebene aufgestellt, damit wir beim Aufschneiden der Angel genügend Licht hatten. Jetzt brachten wir sie näher heran, so daß sie das Innere der Gruft ausleuchteten. Wir blickten hinein, wahrten dabei aber vorsichtig Distanz. Ich zitterte ein wenig, als der Schock des Wiedererkennens wie ein frostiger Schauer über meinen Rücken lief: Ganz deutlich sah ich die Szene vor mir, die in der Kugelsequenz veranschaulicht worden war.
Eine sechseckige Kammer. Fremdartige, rätselhafte Geräte, die an der Rückwand angebracht waren: Bildschirme und Hebel und Knoten und Schalttafel. Und der riesige Roboter saß genau in der Mitte, so massig wie ein gewaltiges Götzenbild, ein Koloß, den die Erhabenen vor zehn Millionen Jahrhunderten hier zurückgelassen hatten, damit er diese Höhle bewachte.
Die Zeit hatte dem Mechanismus im Innern dieser Gruft nichts anhaben können. Der Feuerschein, der dem Leben von 408b ein Ende gesetzt hatte, war ausreichender Beweis dafür.
Und auch dem Roboter hatte die Zeit keinen Schaden zugefügt. Es war unglaublich, aber er funktionierte noch immer. Durch die Kombination der Konstruktions-Fertigkeit der Erhabenen und einer konservierenden, luftlosen Umgebung hatte er allem Zerfall widerstehen können. Als das Licht unserer Scheinwerfer über seinen kugelförmigen Kopf blitzte, sahen wir, wie sein Sichtband als Reaktion darauf die Farbe wechselte — vielleicht das Äquivalent des Roboters zu einem Augenzwinkern. Andererseits aber gab er durch nichts zu erkennen, daß er uns wirklich bemerkte. Eine ganze Weile standen wir ihm schweigend gegenüber, vor der Gruft nebeneinander aufgereiht, und wir wagten es nicht, näher heranzugehen.
Was nun? Wir konnten nichts weiter unternehmen.
Dann fiel mir die Kugel ein und unsere Absicht, sie als Hilfsmittel für eine Verständigung zu verwenden. Ich erinnerte Dr. Schein daran, und er schickte mich zur Fähre zurück, um sie zu holen.
Die Kugel war jetzt auf Rollen montiert. Ich schob sie bis auf zwanzig Meter an den Gruftzugang heran.
„Schalten Sie sie ein“, ordnete Dr. Schein an.
Meine Hand berührte den Knauf. Um uns herum formte sich die Sphäre aus grünlichem Licht und dehnte sich so weit aus, bis ihr Umfang über die Eingangsschwelle der Gruft hinüberreichte. Bilder der Erhabenen begannen durch das Vakuum zu schweben. Ihre Luftstädte wurden gezeigt, ihre Räume, ihre Straßen, sogar die Sequenz, die den Bau genau dieser Gruft veranschaulichte. Das Sichtband des Roboters flackerte nervös. Rasch aufeinanderfolgend nahm das Glühen alle Farben des sichtbaren Spektrums an, wechselte von hellem Purpur zu Dunkelrot und ging dann in den infraroten Bereich über. Das konnte ich nicht mehr sehen, doch ich spürte eine plötzliche Hitze, die von der Gruft ausstrahlte.
Der Roboter bewegte sich.
Langsam und unbeholfen, wie eine ägyptische Mumie, die aus einem tausendjährigen Schlaf erwachte, erhob sich der sitzende Roboter, neigte sich erst nach vorn in eine Art hockende Position und faltete dann seine pfeilerartigen Beine auseinander. Wie gelähmt, erschrocken und fasziniert, sahen wir zu, wie sich das riesige Ding zu seiner vollen Größe von mindestens dreieinhalb Metern aufrichtete. Etwa eine Minute lang stand der Roboter hoch erhoben, testete seine vier Arme und streckte sie aus, als recke er sich. Er betrachtete die Szenen, die die Kugel zeigte.
Dann setzte er sich würdevoll in Bewegung und begann, aus der Gruft heraus und uns entgegenzuschreiten.
Alle um mich herum verloren den Kopf und rannten davon. Ich blieb an Ort und Stelle, mehr aus Verblüffung als aus Tapferkeit. Und so stand ich ganz allein, als der Roboter die Gruft verließ und sich an mich heranschob, ein funkelnder Metallkoloß, der fast zweimal so groß ist wie ich.
Zwei seiner Arme senkten sich. Aus Hohlräumen in den faustartigen Verdickungen am Ende jedes Arms glitten gewebeartige Finger, die die Kugel vorsichtig umfaßten. Der Roboter nahm sie auf und hob sie hoch über seinen Kopf, als wollte er sie mit zerschmetternder Wucht auf mich schleudern.
Ich wandte mich um und rannte der Fähre entgegen. Ich dachte überhaupt nicht daran, mich der niedrigen Schwerkraft anzupassen, sondern hüpfte und sprang den ganzen Weg über. Besorgte Hände streckten sich nach mir aus und zogen mich in die Fähre hinein.
Ich sah zurück. Der Roboter hatte sich nicht gerührt. Wie ein Titan, der eine Welt in seinen Klauen hält, stand er da, die Kugel noch immer hoch erhoben. Regungslos starrte er zu ihr hinauf, gefangen in einem eine Milliarde Jahre alten Traum.
Seit ich in die Fähre zurückgekehrt bin, sind nun zwei Stunden vergangen. Der Roboter hat sich während dieser Zeit nicht einmal gerührt. Wir haben uns in der Fähre zusammengedrängt, verwirrt, ängstlich, aber auch außerordentlich neugierig. Dr. Horkkk, Dr. Schein und Pilazinool beraten sich einmal mehr, vorn in der Pilotenkanzel. Ich habe keine Ahnung, was wir als nächstes unternehmen sollen. Unsere wildesten Vorstellungen sind noch übertroffen worden. Wir sind geradewegs zum Asteroiden geflogen, auf dem die Erhabenen ihre Gruft bauten; wir haben die Gruft gefunden; und wir haben auch den Roboter gefunden, in noch immer funktionsfähigem Zustand. Dies alles ähnelt der Art von Träumen, die Süchtige in Kifferpalästen kaufen können. Doch inzwischen ist der Traum von der Realität abgelöst worden. Dort draußen wartet der Roboter auf uns. Einer von uns ist bereits tot. Sollen wir es wagen, die Herausforderung anzunehmen? Oder stehlen wir uns wie Feiglinge davon, obwohl wir die größte archäologische Entdeckung aller Zeiten gemacht haben?
Ich weiß es nicht.
Und der Roboter wartet noch immer. So wie er bereits seit einer Milliarde Jahren wartet.
2. Januar 2376
Der Asteroid
Gestern morgen hat Pilazinool nach Freiwilligen gefragt, die hinausgehen und versuchen sollen, Kontakt mit dem Roboter aufzunehmen. Jans Hand kam als erste in die Höhe. Meine folgte und dann die der meisten anderen, wobei sich Steen Steen und Leroy Chang bezeichnenderweise zurückhielten. Der Gruppe, die schließlich hinausging, gehörten Pilazinool, Dr. Horkkk, Mirrik und ich an. Jan wollte nicht gern zurückstehen, doch ich war erleichtert, daß sie nicht aufgerufen wurde.
Hintereinander marschierend überquerten wir die öde Felsebene, Pilazinool vorn, Mirrik hinten. Bis auf Dr. Horkkk waren wir alle bewaffnet. Ich war mit einem Positronengewehr ausgerüstet, mit dem ich den Roboter wahrscheinlich in die Luft jagen konnte, aber ich war nicht scharf darauf, diese Waffe zu benutzen.
Als wir uns dem Roboter bis auf zwanzig Meter genähert hatten, blieben wir stehen und schwärmten weit aus. Dr. Horkkk trat vor. In seinen linken Händen hatte er eine kleine Tafel; in einer seiner rechten Hände hielt er einen Inschriftsknoten. Der Roboter nahm keine Notiz von ihm. Er stand noch immer reglos wie eine Statue und hielt die Kugel hoch, obwohl sie nun keine Bilder mehr zeigte.
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