Der Langbart meldete die Krähe seinem Herrn und war nicht wenig erstaunt, als dieser
befahl, sie sofort einzulassen und ihr alle höfischen Ehren zu erweisen.
Der Scheuch hatte die Krähe f ür immer in dankbarer Erinnerung behalten. Er empfing sie
strahlenden Angesichts in Anwesenheit der Höflinge, stieg von seinem Thron und machte
mit seinen weichen, schwachen Beinen drei Schritte auf sie zu.
Das ging in die Annalen des Hofes als größte Ehrung ein, die jemals einem Gast zuteil
wurde.
Auf Befehl des Scheuchs wurde Kaggi-Karr in den Rang einer Hofdame erhoben und erhielt den Titel Erste Abschmeckerin. Der Scheuch selber brauchte zwar kein Essen, doch er führte einen guten Tisch für seine Höflinge. Unter Goodwin hatte es einen solchen Brauch nicht gegeben, und die Höflinge priesen und lobten die Freigebigkeit ihres neuen Herrschers.
Der Krähe wurde ein herrliches Weizenfeld unweit der Stadtmauer zugewiesen, das von nun an als ihr Besitztum galt.
DIE BELAGERUNG DER SMARAGDENSTADT
Als Urfins Holzarmee anrückte, war Kaggi-Karr gerade dabei, eine zahlreiche Vogelgesellschaft auf ihrem Feld zu bewirten. Beim Anblick der bunt bemalten grimmigen Holzmänner auf dem Backsteinweg erriet sie, daß es Feinde waren. Sie befahl ihren Gästen, diese aufzuhalten, und flog eiligst in die Stadt.
Das Amt des Torhüters der Smaragdenstadt versah Faramant. Seine oberste Pflicht bestand darin, zahlreiche grüne Brillen aller Größen aufzubewahren, die auf Goodwins Befehl ein jeder beim Betreten der Stadt aufsetzen mußte. Damit die Leute die Brillen nicht abnahmen, waren diese hinten mit kleinen Schlössern versehen. Der Weise Scheuch, der Goodwins Gesetze achtete, änderte nichts an diesem Brauch.
Kaggi-Karr schrie dem Hüter des Tores zu, daß Feinde im Anzug seien, und flog in das Schloß.
Die unzähligen Dohlen, Elstern und Spatzen, die auf dem Felde zurückgeblieben waren, stürzten sich auf Urfins Holzarmee, um ihren Vormarsch aufzuhalten. Die Vögel flatterten vor den Gesichtern der Soldaten, stießen ihnen die Schnäbel in die Rücken, gingen auf ihre Köpfe nieder und versuchten, ihnen die Glasaugen herauszupicken. Eine flinke Elster riß dem General sogar den Hut vom Kopf und flog mit ihm davon.
Die Holzsoldaten fuchtelten mit ihren Säbeln und Knüppeln, doch die Vögel wichen ihnen geschickt aus. Ein blauer Soldat traf aus Versehen den Arm eines grünen, der sich, vom Gefecht benommen, auf ihn stürzte. Es kam zu einem wüsten Handgemenge. Als Unteroffizier Giton sich zwischen die beiden warf, traf ihn zufällig der Knüppel eines orangefarbenen Holzkopfs (der Schlag hatte einer Elster gegolten) und riß ihm das Ohr ab. Es entstand ein schrecklicher Tumult. Urfin brüllte und stampfte mit den Füßen, General Lan Pirot wußte nicht, was er eher tun sollte: dem diebischen Vogel nachrennen oder das Heer wieder ausrichten. Die militärische Disziplin gewann jedoch die Oberhand: Der General gab seinen Hut auf (die Elster baute aus ihm später ein prächtiges Nest) und begann mit seiner schweren Keule die Holzköpfe zu bearbeiten. Es gelang ihm, die Ordnung notdürftig wiederherzustellen. Die Armee hatte indessen die Vögel abgewehrt und trampelte nun auf das Tor zu. Wegen des Getümmels hatte sie aber viel Zeit verloren, und Kaggi-Karr schaffte es gerade noch, die Stadt vom Anzug des Feindes zu benachrichtigen.
Din Gior lief zum Tor. Er hatte sich den langen Bart über die Schulter geschlagen, und während er durch die Straßen fegte, schrie er: „Hilfe! Hilfe! Feinde im Anzug!"
Die Einwohner folgten aber nicht dem Ruf, sondern verkrochen sich in ihren Häusern. Din Gior erreichte das Tor, das Faramant fest verschloß. Die beiden begnügten sich aber nicht damit, sondern brachen Steine und Kristalle aus dem Pflaster heraus und türmten sie hinter dem Tor auf.
Dieses war bereits bis zur Hälfte verrammt, als draußen heftig geklopft wurde.
„Aufmachen, aufmachen!" schrie jemand.
„Wer ist da?" fragte Faramant.
„Urfin, der mächtige Herrscher des Blauen Landes!" „Was wünscht Ihr?"
„Die Smaragdenstadt soll sich ergeben und mich als ihren Gebieter anerkennen!"
„Niemals!" entgegnete Din Gior.
„Dann werden wir eure Stadt im Sturm nehmen!"
„Versucht es doch!" erwiderte der Langbart.
Din Gior und Faramant hoben ein paar große Steine und Kristalle auf, stiegen auf die Mauer und verbargen sich hinter einem Vorsprung.
Die Soldaten hämmerten mit Fäusten, Füßen und Stirnen gegen das Tor. Dann gingen sie in den nahen Wald und fällten dort einen hohen Baum, schleppten ihn herbei, stellten sich, von den rotbemalten Unteroffizieren angetrieben, in zwei Reihen auf, hoben den Stamm an und rammten ihn krachend gegen das Tor.
Din Gior schleuderte einen mächtigen Kristall hinab, der Urfins Schulter traf und ihn umwarf. Ein zweiter Stein sauste auf Lan Pirots Kopf nieder, der ein Loch bekam, von dem nach allen Seiten hin Risse gingen.
Urfin sprang auf und stürzte davon, der Palisandergeneral folgte ihm auf dem Fuße. Als die Holzköpfe ihre Führer Reißaus nehmen sahen, taten sie das gleiche. Es war eine panische Flucht. Unteroffiziere und Soldaten stolperten übereinander, fielen und rafften sich wieder auf, warfen im Lauf Knüppel und Säbel fort, und ganz hinten lief, vor Angst brüllend, Meister Petz. Oben auf der Mauer lachte schallend der Langbart. Weit draußen vor der Stadt kam das Heer zum Stehen. Urfin rieb sich die Schulter und schimpfte den General einen Feigling.
Dieser rechtfertigte sich mit seiner schweren Verwundung und betastete seinen zerschlagenen Kopf.
„Ihr seid ja auch geflohen, Gebieter", sagte Lan Pirot.
„Holzkopf!" schrie Urfin empört. „Euren Schädel werd ich schon flicken, und wenn er wieder aufpoliert ist, sieht er wie neu aus. Wenn aber mein Kopf ein Loch bekommt, bin ich mausetot!" „Was bedeutet tot?"
„Blödian!" entgegnete Urfin wütend und brach das Gespräch ab.
Der Vorfall endete damit, daß die Soldaten für alles verantwortlich gemacht und mit
Knüppeln gezüchtigt wurden.
Die Armee wagte keinen neuen Angriff und schlug nicht weit vom Tore ihr Lager auf. Die Belagerung der Stadt begann. Zwei- oder dreimal zeigten sich die Holzsoldaten vor dem Tor, aber von den Mauern flogen ihnen Steine entgegen, und sie zogen jedesmal wieder ab.
Es schien, als ob die Stadt uneinnehmbar sei. In der Verteidigung gab es aber schwache Stellen. Ersteres bestand die Möglichkeit, daß die Lebensmittelzufuhr aufhört. Die Einwohner würden dann wohl einige Tage von ihren Vorräten leben, doch wenn diese zu Ende sind und der Hunger beginnt, würden sie aufbegehren und die Übergabe der Stadt an den Feind fordern. Zweitens könnten Din Gior und Faramant, die einzigen Verteidiger des Tores, einmal von Müdigkeit übermannt werden, und das konnte sich der Feind zunutze machen, um die Stadt zu überrumpeln.
All das bedachte der Scheuch mit seinem klugen Gehirn und traf die notwendigen Maßnahmen. Unter den Höflingen und der Bürgerschaft fanden sich keine verläßlichen Leute, und so siedelte er denn selber in das Wächterhäuschen Faramants über, was sich schon in der ersten Nacht als sehr vernünftig erwies.
Der Scheuch hieß Faramant und Din Gior, die furchtbar müde waren, schlafen gehen, nahm ihren Platz auf der Mauer ein und blickte mit seinen stets offenen, aufgemalten Augen auf das weite Feld hinaus. Da sah er, daß Urfin zum Sturm rüstete. Die Belagerer hatten abgewartet, bis es hinter der Mauer still wurde, und schlichen sich nun leise an das Tor heran. Sie trugen Brecheisen und Äxte, die sie in den umliegenden Farmen erbeutet hatten. Der Scheuch weckte Din Gior und Faramant, die die Angreifer mit einem Steinhagel empfingen und in die Flucht schlugen.
Da umschlang der Strohmann die treuen Helfer mit seinen weichen Armen und sprach: „An Urfins Stelle hätte ich meinen Soldaten befohlen, ihre Köpfe mit Holzschilden zu schützen. Und ich bin überzeugt, daß der Feind gerade so verfahren wird. Im Schutz der Schilde wird er dann ohne Angst das Tor einrennen." „Und was sollen wir tun, Gebieter?" fragte Din Gior.
Читать дальше