In den nächsten Tagen hatten sie reichlich zu tun. Sie brachten das Haus vom Keller bis zum Dach auf Vordermann, sammelten Beeren, Pilze und eine körnerartige Frucht, die sich zu Mehl zermahlen ließ. Mo fand in der Abstellkammer kräftiges Kunststoffgarn, aus dem er ein Netz für den Fischfang knüpfte, und Ol reparierte das Schloß an der Tür, das sie zerbrochen hatten.
Bei derlei Beschäftigung wurde ihnen die Zeit nicht lang, doch sie mußten immer wieder an früher denken. Viola und Ol sehnten sich nach Vi, Mo vermißte den Bruder. Würden sie je zu den beiden zurückkehren können? Sie wußten es nicht.
Eines Tages, sie überlegten gerade, was sie zum Mittagessen machen sollten, hörten sie ein sonderbar sirrendes Geräusch vor dem Haus und dann im Flur. Es war, als sei jemand durch die geschlossene Tür hereingekommen. Ol nahm die Sache zunächst nicht ernst.
»Ihr sollt nicht immer so hastig die Treppen hinabspringen«, sagte er, »da klirren ja sämtliche Lampen.«
Viola wollte gerade erklären, daß keiner von ihnen auf der Treppe gewesen war, als sie erschrak. Etwas Flirrendes bewegte sich an der Tür, danach am Fenster, dann am Kamin. Sie stürzte zu ihrem Vater, preßte sich an ihn.
»Ein Geist«, rief sie, »im Haus ist ein Geist!« Und wirklich schälte sich aus dem Schatten am Kamin eine flimmernde Gestalt, nahm die Formen einer Frau an.
Mo war gleichfalls erschrocken, zumal plötzlich am Tisch ein zweiter Geist stand. Das aber war eindeutig ein männliches Wesen, genauer gesagt, ein Junge, nicht viel größer als er selbst.
»Erkennt ihr uns denn nicht?« fragte die Frau leise, aber mit vertrautem Tonfall, »wir sind so glücklich, daß wir euch gefunden haben. Wir hatten es schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt.«
»Vi«, rief Ol mit erstickter Stimme, »bist du es wirklich?« Und er fügte hinzu: »Schau doch richtig hin, Viola, es ist die Mama.« Er stürzte, das Mädchen mit sich ziehend, zu seiner Frau.
Nach der ersten Verblüffung begriff Viola endlich. Sie stieß einen Freudenschrei aus und wollte sich der Mutter in die Arme werfen. Das ging allerdings nicht so einfach, sie bekam nur flirrende Luft zu fassen. Lediglich einen sanften Hauch spürte sie auf der Wange, der sie streichelte und liebkoste.
»Nun überlaß die Mama mal mir«, sagte Ol gerührt, »ich glaube, wir haben uns alle einen Kuß verdient.«
Vi lachte, und man sah, daß sie ihrem Mann einen Kuß gab. Währenddessen hatte sich der Geist No – wer hätte es anders sein können – zu seinem Bruder gesellt und versetzte ihm zur Begrüßung einen freundlichen Rippenstoß, von dem Mo allerdings nichts merkte. Man konnte bloß die Bewegung verfolgen.

»Ihr kommt als Elme zu uns«, sagte Ol. »Manchmal hatte ich schon so was vermutet. Schade, daß wir euch nicht in die Arme schließen können, aber Hauptsache, ihr seid überhaupt da.«
»Das will ich meinen«, erwiderte Vi, »es war nicht ganz einfach, hierher zu gelangen.«
»Wart ihr auf der Erde? Seid ihr deshalb körperlos?«
»Das werdet ihr gleich alles erfahren, wenn ihr uns nur einen Augenblick zum Verschnaufen laßt«, gab Ols Frau zur Antwort.
WIEDER AM KAMIN
»Nun aber los, erzählt endlich«, sagte Ol, als die erste Erregung etwas abgeklungen war und sie sich wie in alten Zeiten um den Kamin scharten. Viola und Mo knabberten an einem süßen Fladen, Ol hielt ein Glas mit Beerensaft in der Hand, Vi und No aber saßen einfach da, froh, wieder bei der Familie zu sein. Vorher war Violas Mutter allerdings noch durchs ganze Haus geschwirrt, hatte alle Zimmer und vor allem die Küche in Augenschein genommen.
»Fangen wir am besten an der Stelle an, als wir merkten, daß du Viola und Mo nachgerannt bist«, begann Vi. »Statt uns Bescheid zu geben, bist du ohne ein Wort verschwunden. Na, Schwamm drüber. Wenn’s auch sonderbar klingt, es liegt ja Tausende von Jahren zurück.«
Ol seufzte:
»Tausende von Jahren, das ist wirklich nicht so leicht zu verdauen.«
»Wir rannten dir also nach«, fuhr Vi ungerührt fort, »und sahen, daß ihr drei von dem Tunnel eingesogen wurdet. Wir haben euch vom Schutzschild aus beobachtet. Das war vielleicht ein Schock!«
»Daß ihr erschrocken wart, glaub ich schon. Aber was geschah dann?« fragte Viola aufgeregt.
»Ich schlug vor, die Skaphander zu suchen«, mischte sich No ein, »wir mußten doch was unternehmen.«
»Und dann kamen plötzlich Din und Nel mit dem Peilwagen angeflogen«, fügte Vi hinzu. »Diese beiden Spitzbuben, ihr wißt schon. Sie hatten von Or den Auftrag, uns alle zu beobachten. Schon im Haus haben sie uns belauscht, wie wir bald darauf erfuhren.«
Ol war verblüfft. Daß der Direktor ihn und seine Familie beobachten ließ, hatte er trotz allem nicht vermutet. Und so hörte er seiner Frau jetzt noch gespannter zu.
Vi erzählte, daß die beiden Massaren sie freundlich, aber bestimmt gebeten hatten, in den Peilwagen zu steigen. Dort stellten sie eine Verbindung zu ihrem Chef her, fragten ihn, was nun geschehen sollte. Mittlerweile hatten selbst sie begriffen, daß im Elming und im Tunnel gefährliche Dinge vor sich gingen.
Or erkundigte sich zunächst nach den wertvollen Raumanzügen, die Ol aus dem Zentrum mitgenommen hatte. Ob sie sich noch im Haus befänden.
Vi schaltete sofort. Sie durfte die Skaphander auf keinen Fall zurückgeben. Es war ihre einzige Chance, Ol und die Kinder wiederzufinden.
»Die haben leider Viola und Mo«, schwindelte sie.
Dem Direktor gefiel das gar nicht, vielleicht hatte er die Skaphander selbst benutzen wollen, wenn die Lage noch ernster wurde. Er brummte unzufrieden vor sich hin.
»Was sollen wir jetzt machen, Chef?« fragte Din.
»Setzt Vi und den Bengel zu Hause ab, wenn ihr schon den Wagen dabei habt«, murrte er, »dann kommt ins Zentrum zurück!«
»Weshalb haben Sie uns eigentlich beobachten lassen?« wollte Vi von Or wissen.
»Ihr müßt mich richtig verstehen. Es geht um Dinge, die für die Irena von höchster Bedeutung sind. Es war nicht persönlich gemeint, wirklich nicht.«
Vi gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden:
»Ich hoffe, Sie werden Ihre Leute nicht noch mal auf uns ansetzen?« hakte sie nach.
»Nein, nein, ich verspreche es«, versicherte Or.
Vi wußte natürlich, was sie von den Versprechungen des Direktors zu halten hatte, baute aber darauf, daß er seine Männer jetzt für wichtigere Dinge brauchen würde. Deshalb gab sie sich zufrieden und ließ sich zusammen mit No nach Hause bringen.
Dort setzten sie sich erst einmal niedergeschlagen in einen Sessel. Die Lage schien aussichtslos. Vielleicht würden sie Viola, Mo und Ol nie wiedersehen.
Um überhaupt etwas zu tun, lief Vi in die Küche und begann aufzuräumen. Das Frühstücksgeschirr stand noch unabgewaschen herum. Sie klapperte mit den Tellern und zerbrach eine Tasse, schien das aber gar nicht zu merken.
»Wir müssen uns die Skaphander schnappen und zum Tunnel zurückkehren«, erinnerte No, der ihr gefolgt war. »Das ist unsere einzige Chance.«
Vi war skeptisch.
»Auch mit den Skaphandern erreichen wir nicht viel. Der Tunnel hat seine Lage bestimmt schon wieder verändert. Wir kommen in einer ganz anderen Zeit an.«
»Wo hat Ol die Fluganzüge eigentlich hingetan?« fragte No.
»Er hat es mir nicht gesagt. Auf jeden Fall sollten wir uns erst mal überzeugen, ob die Luft rein ist.«
Sie blickten aus dem Fenster, gingen auch vor die Tür. Kein Peilwagen oder sonst etwas Verdächtiges war zu entdecken.
»Die Massaren scheinen uns tatsächlich in Ruhe zu lassen«, sagte No.
»Also gut, suchen wir jetzt die Fluganzüge.«
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