Um das Wasserloch herum war eine Art Oase entstanden, und wenn es sich bei den Pflanzen auch um anspruchslose Gewächse handelte, die nicht viel zum Leben brauchten, so breiteten sie sich doch aus, wucherten und bildeten im grauen Einerlei der Landschaft eine grüne Insel.
»Es überrascht mich gar nicht, daß sich hier Flugmolche einfinden«, sagte Ol, »wer weiß, wo der nächste Teich oder Fluß ist. Die Irena scheint verwüstet und ausgestorben zu sein.«
»Du glaubst, wir sind die einzigen Menschen auf dem ganzen Planeten?« sagte Viola erschrocken.
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Ol, »vielleicht gibt es in anderen Gegenden menschliches Leben. Im Moment haben wir freilich kaum Möglichkeiten, das zu erkunden.«
»Wenigstens haben wir erst mal unseren Durst gestillt«, sagte Mo, der stets Optimist war.
»Schon richtig«, erwiderte Viola, »zu trinken haben wir. Allerdings ist mein Hunger dadurch nicht kleiner geworden. Im Gegenteil, ich könnte Frühstück, Mittag und Abendbrot auf einmal verschlingen.«
ELME AUF DER IRENA
Wie um ihren Worten Taten folgen zu lassen, riß Viola ein paar Riedgrasstengel mitsamt der Wurzel aus, befreite sie von Sand und Schlamm und biß geräuschvoll in die saftigen Knollen. Auf der Irena wurden diese Pflanzen als Gemüse benutzt, das mit seinem leicht süßlichen Geschmack vor allem Kindern zusagte. Als sie noch kleiner war, hatte sich das Mädchen oft den Bauch damit vollgeschlagen, bis sie Magendrücken bekam.
Den Hunger vermochte man mit diesen Knollen freilich nur schlecht zu stillen, eher wurde noch der Appetit angeregt. Mo, die Riedgraswurzeln kauend, sah sich deshalb suchend nach einem kräftigen Ast um, den er anspitzen und zum Fischfang benutzen konnte. Fische hatte er in dem Tümpel schon entdeckt, es wäre doch gelacht, wenn man nicht zu einer herzhafteren Mahlzeit käme, als es dieses Gemüse war.
Auch Ol konnte den Gedanken ans Essen nicht ganz verdrängen. So sehr er Tiere mochte und so erfreut er über das Auftauchen des Flugmolches war – wenn man ihn einfangen und in Stücke zerlegen würde, hätte man für ein paar Tage ausgesorgt. Sein Fleisch sollte etwas fade schmecken, doch was schadete das schon. Vielleicht gelang es ihnen, ein Feuer zu machen und das Tier wie ein Ferkel am Spieß zu braten.

Er riß sich von dem Gedanken los – so weit waren sie zum Glück noch nicht. Dem Flugmolch zublinzelnd, als wollte er ihn um Verzeihung bitten, wandte er sich von dem Tümpel ab und dem Hügel zu. Vielleicht gab es dort Pilze, Beeren, wild wachsendes Obst, größere Vögel oder sogar Kaninchen, für die man eine Falle bauen konnte.
Ol arbeitete sich durch stachliges Gras und Gestrüpp zu einer Stelle vor, wo der Hügel ziemlich steil abfiel, und plötzlich kam ihm die Gegend sehr vertraut vor. Dieser Teich, der Blick übers Land…wenn er sich noch ein paar Gebäude in der Ferne vorstellte, die allerdings nicht mehr existierten, und dazu eine Straße…
»Aber hier bin ich doch…« murmelte er und schob ein paar Sträucher auseinander, ohne sich um die Dornen zu scheren, die seine Hände zerkratzten, »ich bin doch…«
Er vollendete seinen Satz nicht, denn unvermutet sah er eine Tür vor sich. Sie war halb verschüttet, von einer dicken Staubschicht bedeckt und gehörte zu einer ins Erdreich gesetzten Mauer. Doch was hieß Mauer und ins Erdreich gesetzt, das da war viel mehr! Jawohl, es war ein ganzes Haus, begraben unter Staub und Steinen, zugeweht und äußerlich in einen Hügel verwandelt, auf dem sich Büsche und sogar kleine Bäume angesiedelt hatten. Um ihre Wurzeln wiederum hatte sich neuer Boden gebildet.
Ol wagte nicht zu glauben, was immer wahrscheinlicher wurde. Gemeinsam mit den Kindern, die auf seinen Ruf hin herbeieilten, legte er die Tür frei. Dazu benutzten sie einfach die Hände. Sie behalfen sich aber auch mit Stöcken, die sie von den Sträuchern brachen.
Die Tür gab nicht gleich nach, sprang jedoch mit einem Schnarren auf, als sie sich dagegen warfen. Offenbar war die Verriegelung zerbrochen. Der Eingang mußte vor unendlich langer Zeit verschlossen worden sein.
Die Kinder wollten sofort losstürmen, um das Innere des Hauses zu erforschen, doch Ol hielt sie zurück.
»Hiergeblieben, wir wissen ja gar nicht, was für Gefahren dort drin auf uns lauern. Wenn einer hineingeht, dann bin ich das. Ihr bleibt an der Tür, haltet Augen und Ohren offen. Nehmt eure Stöcke fest in die Hand, damit ihr mir im Notfall beistehen könnt.«
Das letzte meinte Violas Vater nicht gar so ernst, er wußte schon, daß er sich vor allem auf sich selbst verlassen mußte. Vorsichtig tastete er sich deshalb in der Dunkelheit vor, gelangte über einen kleinen Flur in ein größeres Zimmer. Durch ein Fenster, vor dem gleichfalls Sträucher wuchsen, sickerte etwas Licht herein. Nein, so vermodert und verfallen, wie er anfangs gedacht hatte, war das hier gar nicht. Und gefährliche Tiere, Giftschlangen oder so etwas, schien es auch nicht zu geben.
Ol öffnete das Fenster, so weit es ging, damit mehr Licht und frische Luft hereinkamen, dann schaute er sich genauer um. In der Tat, es war ein Wunder, aber er hatte es geahnt. Die Anordnung der Zimmer, die Möbel – es gab keinen Zweifel. Schon beim Anblick des Tümpels und des Gesträuchs war ihm diese Vermutung gekommen. Als er dann die Tür entdeckt hatte, wurde er sich immer sicherer. Er hatte es bis zuletzt nicht zu hoffen gewagt, aber nun wurde es Gewißheit.
Ol rief Mo und Viola:
»Ihr könnt ins Haus kommen«, sagte er, »es besteht keine Gefahr.« Die Kinder stürzten herein.
»Das ist ja eine richtige Wohnung!« entfuhr es Viola. »Fast gemütlich ist es hier.«
»Erkennst du es denn nicht wieder?« fragte der Vater.
»Wiedererkennen? Waren wir schon mal hier? Ja, tatsächlich, wenn ich das Muster an der Decke betrachte, die Wände und die Tür…«
»Schau dir doch mal den Kamin an und vor allem das kleine Sofa!«
Viola wurde ganz blaß um die Nasenspitze und dann wieder rot.
»Du meinst… das hier ist unser Haus?«
»Ganz ohne Zweifel. Du kannst es dir ruhig auf deinem Sofa bequem machen.«
»Das glaub ich nicht«, murmelte Viola. »Nach dieser irre langen Zeit, die inzwischen vergangen ist, das glaub ich einfach nicht.«
»Hier geht’s zur Küche und hier zu Violas Zimmer«, sagte Mo zögernd, »es könnte tatsächlich stimmen.«

»Aber wie hat es die vielen Jahre überdauert«, fragte Viola, »warum ist es nicht kaputtgegangen?« Sie ließ sich vorsichtig auf ihrem geliebten Sofa nieder.
»Einerseits, weil das Material, aus dem wir es damals erbaut hatten, unzerstörbar ist«, erwiderte Ol, »andererseits, weil es wahrscheinlich von Staub umschlossen und auf diese Weise zusätzlich geschützt wurde. Dann hat sich durch Moose und Pflanzen eine weitere Schutzschicht gebildet.«
»Nicht mal der graue Staub scheint durch die Ritzen gedrungen zu sein«, sagte das Mädchen, »so fest ist alles ineinander gefügt.«
»Und der Tümpel draußen, das ist der Teich, in dem wir immer gebadet haben«, fügte Mo hinzu.
»Richtig«, ergänzte Ol, »er wurde ja schon damals von einer unterirdischen Quelle gespeist. Das scheint heute nicht anders zu sein. Zum Glück für uns. Na, dann wollen wir uns mal häuslich einrichten.«
Die drei machten sich mit frischem Mut ans Werk. Während Viola die Fenster säuberte und das Gesträuch beiseite bog, damit sie mehr Licht bekamen, sammelte Ol Holz und machte Feuer. Mo aber brach zum Angeln auf. Da er geschickt und die Fische arglos waren, fiel es ihm nicht schwer, mit einem angespitzten Stock schon bald ein großes karpfenähnliches Exemplar zu erjagen.
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