
AUF DEM WEG ZUR ERDE
Ein letztes Mal ließen sich’s die beiden in der vertrauten Küche schmecken, dann brachen sie auf. Vi schloß das Haus gut ab, achtete auch darauf, daß alle Fenster und Luken sorgfältig verriegelt waren. Als das getan war, schlüpfte sie in den Skaphander und gesellte sich zu No, der einige Meter weiter bereits ungeduldig auf das Startzeichen wartete.
Auch wenn sie mit den Fluganzügen zur Erde wollten, mußten sie über den Elming, und es stellte sich heraus, daß sie sich damit ziemlichen Gefahren aussetzten.
Der Tunnel zog, indem er sich verschob, eine Spur der Verwüstung, die bis zum Synchronautikzentrum reichte. Alles, was ihm in den Weg kam, wurde unbarmherzig eingesogen, ob es sich nun um Häuser, Bäume, Sträucher oder Steinbrocken handelte. All diese Dinge wurden in wilder Fahrt bis ins Elmenland geschleudert, wo es zu einem ungeheuren Durcheinander kam. Der Wirrwarr, den Viola und der Junge aus Sibirien, Kostja, einst dort erlebt hatten, war nichts dagegen.
Auf der Irena aber wurden Bauwerke und Anlagen mitleidlos zerstört. Die geborstene Kuppel des Synchronautikzentrums lag über einem Gewirr von verbogenen und zerbrochenen Rohren. Zerrissene Elektrokabel und Metallpfeiler ragten in die Luft. Lediglich die unterirdischen Etagen schienen einigermaßen heilgeblieben zu sein, aber auch dort war natürlich jedes Leben erstorben.
Es war, als ob sich der Tunnel an denen rächen wollte, die das Zentrum einst entwickelt und gebaut hatten.
Vi und No sahen die Verwüstungen mit Schrecken. Sie näherten sich dem Tunneleingang sehr zögernd, wagten es zunächst nicht, sich dem Sog auszusetzen. Wie sollten sie den Gegenständen ausweichen, die durch die Luft flogen, wie sich überhaupt in diesem Strom orientieren?
»Ich komme mir wie ein Tierbändiger vor, der seinen Kopf in den Rachen eines Löwen steckt«, flüsterte Vi.
No hatte seinerzeit im Elming den Höhlenlöwen Grau kennengelernt, einen riesigen, aber im Grunde friedfertigen Vierbeiner, der später im Zauberland auf der Erde eine neue Heimat fand. Grau war wirklich furchteinflößend gewesen, dennoch winkte der Junge nur ab:
»Ein Löwe ist nichts gegen das hier«, murmelte er.
»Wir müssen es weiter hinten versuchen, wo der Sog noch nicht so stark ist«, sagte Vi.
»Ach was, wir sollten den Stier gleich bei den Hörnern packen«, erwiderte tapfer No. »Ich hab mal einen Kater auf einem Balkon beobachtet. Unten trieben sich ein paar Katzen herum, und er hätte ihnen liebend gern nachgestellt. Aber es gab keinen Baum in unmittelbarer Nähe, keinen Strauch, kein Schuppendach, über das er hinabklettern konnte. Er mußte springen, das war der einzige Weg. Und er brauchte eine ganze Weile, ehe er sich dazu entschloß. Bestimmt hatte er große Angst.«
»Ja und, hat er sich weh getan?« fragte Vi.
»Eben nicht, das ist es doch, was ich sagen will. Nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht ist. Er landete auf allen Vieren und rannte sofort zu den Katzen.«
»Ist ja alles schön und gut«, wandte Vi ein, »aber wir sollten trotzdem nicht leichtsinnig sein. Wir haben eine weite Reise vor.«
Doch No hatte ihr gar nicht mehr zugehört. Mit einer Art Schlachtruf und einem Hechtsprung stürzte er sich in den Kampf, das heißt mitten hinein in den Sog. Vi blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren.
Der Luftzug war besonders hier am Tunneleingang sehr stark. Die beiden wurden sofort erfaßt und mitgerissen. Dabei durften sie sich nicht ziellos herumwirbeln lassen wie Flaumfedern und mußten auf die Gegenstände achten, die unablässig an ihnen vorbeiflogen. Nicht nur sie selbst hätten sich ja verletzen können, auch die Anzüge waren in Gefahr. Sie durften keinen Schaden nehmen.
Wie lange sie so dahinsausten, wie oft sie sich drehten, überschlugen, haarscharf an Baumstämmen, Metallteilen oder Steinbrocken vorbeiglitten – wer hätte es sagen können. Mit Geschick und Glück vermieden sie Zusammenstöße, erlangten immer wieder das nötige Gleichgewicht. Mit der Zeit gelang es ihnen, die Flugtechnik und die Skaphander so zu beherrschen, daß sie keine Purzelbäume mehr schlugen. Sie waren jetzt schon fast so gut wie Ol.
»Wir dürfen uns nicht zu weit voneinander entfernen« rief Vi, »sonst verpaßt womöglich einer von uns den Abzweig zur Erde und landet sonstwo.«
»Alles klar, ich bleib in deiner Nähe!«
Dann ließ der Sog nach, und vom Elmenland aus steuerten sie in Richtung Erde. Ohne die Anzüge wären sie wie die anderen drei in der Zukunft der Irena angekommen. Allerdings in einem späteren Jahrtausend.

Nun verlief der Flug ruhig, ja fast gemütlich. Kein Geröll mehr, das an ihnen vorbeischwirrte, keine Gefahren. Das dachte wenigstens No, der sich immer wohler zu fühlen begann, je näher sie der Heimat kamen. Vielleicht würde er seine Insel und die Stadt, in der er seine frühe Kindheit verbracht hatte, doch noch wiedersehen.
Alles wird gut werden, sagte sich No zuversichtlich, begann übermütig mit den Armen zu rudern und umrundete Vi, die von seiner Fröhlichkeit angesteckt wurde. Doch die beiden irrten sich, die Prüfungen standen ihnen erst noch bevor. Die Landung auf der Erde sollte ganz anders ausfallen, als sie angenommen hatten.
DIE PANNE
War viel Zeit vergangen oder wenig – in ihren Fluganzügen verloren Vi und No das Gefühl dafür. Die Erde mußte nahe sein, aber noch glitten sie dahin, ohne daß sich das Tunnelende andeutete. Bis sie urplötzlich in einen neuen Sog gerieten und blitzschnell nach draußen geschleudert wurden. Der Tunnel, so schien es ihnen, war auseinandergebrochen oder hatte sich aufgelöst.
Mit Hilfe der Skaphander hätten sie den Sturz vielleicht abfangen können, doch alles kam so überraschend, daß es ihnen nicht gelang, das entsprechende Manöver auszuführen. Nur Vi vermochte in letzter Sekunde durch ein Tastensignal den Aufprall zu dämpfen. No dagegen schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf. Es war, als sei er in Atlantis durch eine Falltür auf den Grund eines Verlieses gesaust.
Aber das war noch nicht alles. Der Boden des Kerkers wäre wenigstens eben und mit einer Schicht, wenn auch fauligem, Stroh bedeckt gewesen. Hier aber ging es steil abwärts. Er prallte gegen einen Geröllhang und konnte einen zweiten Absturz nur verhindern, indem er sich an einen vorspringenden Felsen klammerte. Scharf schnitten ihm die Kanten in die Hände, so daß er beinahe wieder losgelassen hätte.
Zum Glück tat er es nicht. Als er den Kopf wandte und nach unten sah, fuhr ihm der Schreck erst recht in die Glieder. Spitze Klippen,

Gischt, ein wildes, brausendes Meer! Die Wellen türmten sich schäumend übereinander und schienen gierig nach ihm zu greifen.
Vi befand sich in einer ähnlich schwierigen Lage. Der Unterschied war nur, daß sie sich an einem Busch festhielt, dessen Dornen ihr die Finger zerstachen. Sie versuchte erneut zu starten, aber der Skaphander reagierte nicht auf den entsprechenden Knopfdruck. Hoffentlich hat er bei dem Sturz nichts abbekommen, dachte sie.
No wagte den Start gar nicht erst. Es gelang ihm, zwischen dem Geröll Tritt zu fassen und sich langsam nach oben zu schieben. Auch Vi kletterte ein Stück höher. Mit einiger Mühe erreichten beide ein kleines Plateau.
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