Din hatte bei den ersten Worten Ols sofort eine Verbindung zu seinem Chef geschaltet, so daß der Direktor alles mithören konnte. Or hatte sich natürlich selbst auch schon Gedanken über die Lage gemacht und fand sie durch die Worte des Vitanten bestätigt.
Ja, Ol ging in seinen Überlegungen noch weiter als er, indem er meinte, die Kraft des Tunnels könnte ausreichen, die Zeit um Tausende von Jahren zu verschieben. Diese Daten übermittelte Or sofort an das Rechenzentrum. Er war sehr besorgt, zollte der Vorstellungskraft und dem Wissen des Tunnelpiloten aber auch Achtung, ja Bewunderung.
Die aufgeregte Stimme Dins rief ihn unvermittelt in die Gegenwart zurück.
»Chef, im Haus muß irgendwas passiert sein! Ol ist ohne ein Wort zu sagen losgerannt, offenbar zum Elming. Seine Frau und der eine Junge folgen ihm jetzt. Sie haben’s fast noch eiliger als er.«

»Der eine Junge? Was machen der andere und das Mädchen, diese Viola?«
Daß Or sofort nach den beiden Kindern fragte, war Din peinlich. Liebend gern hätte er verschwiegen, daß Nel und er nicht aufgepaßt hatten. Doch das ging nun nicht mehr.
»Obwohl die fünf beim Frühstück noch zusammen waren, haben wir Viola und Mo schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, gab er kleinlaut zu.
»Hab ich nicht ausdrücklich befohlen, daß niemand, nicht das kleinste Mäuschen, das Haus ungesehen betreten oder verlassen darf!« schrie der Direktor wütend. »Achtet ihr so auf meine Anweisungen?«
»Sie haben ja recht, Chef, aber wir sind nur zu zweit. Wenn die einen da und die andern dorthin laufen, können wir sie sowieso nicht alle beobachten. Wir haben uns hauptsächlich auf Ol konzentriert.«
»Ihr habt jede Kleinigkeit zu melden, ihr Dummköpfe«, brüllte Or, »damit ich die entsprechenden Maßnahmen ergreifen kann! Und jetzt fahrt Ol hinterher. Laßt ihn ja nicht aus den Augen!«
Der Peilwagen setzte sich schnell in Bewegung. Din und Nel hatten Ol bald wieder im Visier. Um nicht aufzufallen und die Lage besser überblicken zu können, schalteten sie die Fluganlage ein, erhoben sich wie mit einem Hubschrauber in die Luft. Von dort aus fotografierten sie Ol mehrmals, zuletzt sogar, als er zusammen mit Viola und Mo vom Tunnel eingesogen wurde.
Or, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, nahm die Nachricht vom Verschwinden der drei mit gemischten Gefühlen auf. Gut, daß ich Ol habe beobachten lassen, dachte er. Vielleicht werde ich ihn nie mehr wiedersehen, aber wenigstens bin ich auf dem laufenden. Schade, denn wenn er im Grunde auch mein Gegner war – er war intelligent und ein würdiger Widersacher. Jetzt muß ich zusehen, wie ich mit all den Problemen ohne ihn zurechtkomme.
GEFANGEN IM TUNNEL
Inzwischen rasten Ol, Viola und Mo der Zukunft entgegen. Die anfängliche Leichtigkeit war gewichen, ein starker Druck lastete auf ihnen, und für einige Zeit wurde sogar das Atmen schwer. Erst als sich ihre Körper der Geschwindigkeit angepaßt hatten, waren sie wieder in der Lage, über ihre Situation nachzudenken und sich darüber zu unterhalten.
Viola war noch immer verblüfft über das schnelle Auftauchen ihres Vaters. Ihr schwante, daß sich der kurze Ausflug, den sie vorgehabt hatte, in die Länge ziehen konnte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und wäre am liebsten wieder zu Hause bei ihrer Mutter gewesen.
»Da habt ihr uns was Schönes eingebrockt«, sagte Ol, »wie kann man nur so unvernünftig sein.«
»Wir wollten uns doch bloß mal am Tunnelausgang umschaun, vielleicht für einen Tag oder zwei in die Zukunft fliegen wie No«, rechtfertigte sich Viola.
»Ich hatte euch gestern lang und breit erklärt, daß der Tunnel defekt ist und ich No mit dem Skaphander zurückholen mußte. Aber wer holt jetzt uns zurück?«
»Es sind doch erst ein paar Minuten vergangen«, schaltete sich Mo ein, der Viola nicht im Stich lassen wollte. »Bestimmt werden Vi und No kommen.«
»Ein paar Minuten?« Ol lachte bitter. »Das ganze Tunnelsystem ist aus dem Gleichgewicht geraten, Zeit und Raum verschieben sich mit ungeheurer Geschwindigkeit. Merkt ihr nicht, daß wir mitten im Sog sind? Wir sind schon Jahre von dem Augenblick entfernt, da wir in den Elming eindrangen.«
»Jahre?« rief Viola erschrocken. »Aber das ist ja schrecklich! Wir müssen den Tunnel sofort verlassen.« Und mit den Armen rudernd, versuchte sie kehrtzumachen, dem Sog irgendwie zu entkommen.
Ol sah ihren Bemühungen einen Moment lang zu, ohne einzugreifen. Dann erklärte er:
»Hör schon auf, man kann von einem fahrenden Zug nicht abspringen. Noch dazu, wenn er so dahinrast wie dieser. Und wenn man es könnte, würde man sich alle Knochen brechen. Unsere Gesundheit werden wir aber noch brauchen.«
»Was sollen wir bloß tun?« fragte Mo bedrückt.
»Wir müssen uns um einige tausend Jahre voraus in die Zukunft tragen lassen«, erwiderte Ol, »das ist nicht mehr zu ändern.«
Obwohl die beiden Kinder sich so ungeheuer große Zeiträume nicht richtig vorstellen konnten, waren sie für den Augenblick sprachlos. Entgeistert starrten sie Ol an.
Nach einer Weile sagte Viola:
»Tausende von Jahren? Bleiben wir wenigstens hier, auf der Irena?«
»Es sieht so aus. Allerdings könnten wir später auch zur Erde gelangen. Nach meinen Berechnungen sogar schneller als bisher und wahrscheinlich in die Vergangenheit.«
Mo war von dieser Aussicht sehr angetan, seine Augen begannen zu funkeln.
»Also ich wäre dafür, zur Erde zu fliegen«, sagte er. »Vielleicht kommen wir in jene Epoche, als Atlantis noch existierte. Zu schade, daß No nicht bei uns ist.«
»Und wie sollen wir auf der Erde Mama treffen?« fragte Viola, der die Tränen in die Augen stiegen. »Wenn sie uns sucht, dann auf der Irena.«
»Der Tunnel wird uns zunächst sowieso keine Wahl lassen«, erwiderte Ol, »wir werden im Sog bleiben, bis er uns freigibt. Erst dann können wir weitersehn.«
Die Kinder schwiegen erneut, und da die Geschwindigkeit immer größer wurde, preßte sich Viola fest an ihren Vater. Er war ihr einziger Schutz, und so hielt sie auch dem Druck besser stand.
Mo aber erkundigte sich:
»Wie lange kann es denn dauern, bis uns der Tunnel wieder freigibt?«
»Wenn ich es richtig einschätze, ungefähr eine Woche.«
Viola war entsetzt.
»Eine ganze Woche? Aber bis dahin verhungern wir. Durst habe ich schon jetzt.«
Mo wußte Bescheid:
»Eine Woche – das könnten wir gerade noch schaffen. Ohne Wasser, meine ich, so lange steht der Mensch es notfalls durch. Ohne Essen kommt er dagegen bis zu einem Monat aus.«
»Ihr braucht keine Angst zu haben, wir verhungern und verdursten schon nicht«, beruhigte Ol die beiden. »Wir kommen bald am Elmenland vorbei, wo man sich in ein körperloses Wesen verwandelt, das keine Nahrung benötigt. Ihr habt damit ja bereits eure Erfahrungen gemacht.«
Und wirklich – als durchscheinende Wesen, Geistern aus dem Jenseits ähnlich, wurden sie nach sieben Tagen zum Ende des Tunnels geschleust. Erst hier wurden sie wieder sie selbst. Der Sog verebbte, und sie gelangten zum Ausgang.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war allerdings niederschmetternd. Zu Hause hatten eine warme, freundliche Sonne, saftiges grünes Gras und ein üppiger Wald ihr Auge erfreut. Vögel hatten gezwitschert, blaue Seen und sprudelnde Bäche zum Baden eingeladen. Vor allem aber hatte es Menschen gegeben, Massaren und Vitanten. Hier dagegen war nichts Lebendiges zu entdecken. Eine bläßliche Scheibe hing schief an einem traurig grauen Himmel, der den Betrachter wehmütig stimmte. Kein Gedanke, daß von dort freundliche Sonnenstrahlen zur Erde dringen könnten. Überhaupt wirkte alles ringsum trist und grau, wie von Schimmel oder Spinnweben überzogen. Wo sollte da Vogelgezwitscher herkommen? Und statt blauer Seen gab es nur bräunlichen Morast.
Читать дальше