»Was ist das?« erkundigte sie sich hastig.
»Das sind die Kristallskaphander, über die ich vorhin mit No und Mo gesprochen habe. Or hat sie mir überlassen, weil ich am besten damit umgehen kann, schließlich hab ich sie seinerzeit als erster ausprobiert. Sie besitzen zwar nur eine Reichweite von hundert Jahren, aber in diesem Fall waren sie das einzige Mittel, No wieder einzufangen. Ich hab ihn erwischt, bevor er auf Nimmerwiedersehen in der Zukunft verschwand. Gemeinsam sind wir dann zurückgeflogen.«
»Ich habe mich dabei nicht gerade geschickt angestellt«, sagte No verlegen.
»Für das erste Mal in so einem Skaphander warst du ganz gut«, tröstete ihn Ol.
Vi dachte daran, daß ihr Mann in dem defekten Tunnel hätte verunglücken, mit No für immer in der Zukunft verlorengehen können, und ihr wurde ganz übel.
»Was in drei Stunden alles passieren kann!« sagte sie. »Das war doch sehr gefährlich. Wenn ich gewußt hätte, was ihr treibt, hätte ich nicht so ruhig zu Hause gehockt.«
Ol erwiderte:
»Nun ja, gefährlich war es vielleicht. Aber drei Stunden, das scheint uns nur hier auf der Irena so. No war mir bereits einen Tag voraus. In dem Tunnel vergeht die Zeit nämlich viel schneller.«
Über dieses Problem sprachen sie dann noch ausführlich, und als Viola später im Bett lag, konnte sie eine ganze Weile nicht einschlafen. Die Kristallskaphander gingen ihr im Kopf herum. Bestimmt würden ihr Vater und No die Fluganzüge erneut ausprobieren, um damit den defekten Tunnel zu erforschen. Wie konnte sie es nur anstellen, daß man sie mitnahm? Erst gegen Mitternacht schlief das Mädchen endlich ein. Sie war zu keiner Lösung gekommen. Aber auch Ol war noch lange wach und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Er fragte sich, weshalb der Tunnel außer Kontrolle geraten war und was sich daraus für Folgen ergaben.

VIOLA UND MO MACHEN SICH DAVON
Am nächsten Morgen saß Ol nicht wie üblich als erster. am Frühstückstisch, sondern mußte mehrmals gerufen werden.
Zum Frühstück gab es Buletten, und Ol, der die knusprigen braunen Klopse gern aß, riß sich für eine Weile von seinen Überlegungen los. Ganz gelang ihm das freilich nicht. Gefesselt von seinen Überlegungen, führte er Selbstgespräche und gestikulierte wild mit den Händen.
»Der eine Pol ist die Erde, der andere die Irena«, sagte er laut. »No ist in die Zukunft geflogen, also führt der Tunnel von hier aus dorthin. Von der Erde aus aber geht es in die Vergangenheit. Genauso muß es sein. Nur im Elmenland, das dazwischen liegt und wo sich die unterschiedlichen Kräfte treffen, bleibt alles beim alten, dort ist die Zeit gleich null.«
Während Ol nachdachte und Schlüsse zu ziehen versuchte, gingen seiner Tochter Viola viel praktischere Dinge durch den Sinn. Auch sie beschäftigte sich innerlich mit dem Tunnel und den sonderbaren Vorgängen dort. Dabei schien ihr ein Ausflug in die Zukunft allerdings eher verlockend als gefährlich.
Das Risiko wird schon nicht so groß sein, sagte sie sich, dieser No hätte ja nur umkehren müssen, wahrscheinlich hatte er jede Orientierung verloren. Wenn er sich ein bißchen angestrengt hätte, wäre er auch wieder nach Hause gekommen. Das ist sogar mir gelungen, als ich damals im Elmenland war. Außerdem passe ich besser auf als er. Sobald ich merke, daß es schwierig wird, breche ich das Experiment ab.
Zu ihrer Überraschung fand Viola einen Verbündeten in Mo, der seinem Bruder in nichts nachstehen wollte. Mal an der Zukunft schnuppern könnte man ja, dachte er. Und da er erriet, was das Mädchen vorhatte, brauchten sie nicht viel Worte, um sich zu verständigen.
Während Ol noch in seinem Zimmer war und verschiedene Berechnungen über die umgewandelte Energie anstellte, während Vi in der Küche hantierte und No sich mit dem Roboter beschäftigte, machten sich die beiden heimlich aus dem Staub. Sie benutzten nicht die Straße, sondern schlichen durch den Garten und kletterten über den Zaun. Danach robbten sie eine Weile über freies Feld und rannten erst los, als sie merkten, daß niemand ihnen auf den Fersen war. Jetzt trennte nur noch der kleine Bach sie vom Elming. Ohne lange zu überlegen, sprangen sie hinein und wateten ans andere Ufer.
Unterwegs hatten sie sich Gedanken gemacht, wie Viola den unsichtbaren Schutzschild überwinden könnte, der den Eingang zum Schacht abschirmte. Für Mo war das kein Problem, er stammte ja von der Atlantis. Vielleicht, so sagte er sich, klappte es für das Mädchen, wenn er sie

an der Hand nahm? Doch nichts da – während er passieren konnte, prallte sie zurück wie von einer Gummiwand.
Mo kam zu Viola zurück, und sie versuchten es erneut. Sie dachten sich die unmöglichsten Varianten aus: auf allen Vieren, mit dem Hintern zuerst, mit einem gewaltigen Sprung oder eng aneinandergepreßt. Doch alles half nichts, und so setzten sie sich enttäuscht ins Gras. Wahrscheinlich würde das Mädchen unverrichteter Dinge umkehren müssen.
So schnell aber gab Viola nicht auf.
»Wenn der Tunnel einen Defekt hat«, sagte sie, »warum sollte dann der Schutzschild noch voll und ganz intakt sein. Wir müssen nach einem Loch suchen, durch das ich schlüpfen kann. Los, gehn wir langsam um den Elming herum.«
Mit dieser Hoffnung machten sie sich ans Werk, und Viola tastete immer wieder die unsichtbare Wand nach einer Lücke ab. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie tatsächlich einen Spalt fand. Sie hatte es doch gewußt!
»Das schaffe ich«, rief das Mädchen und quetschte sich durch die Lücke. Als sie halb im Innern des Elmings war, gab der Schutzschild unvermutet nach, und sie fiel der Länge nach hin. Aber die Kratzer an Knie und Ellbogen, die sie sich dabei zuzog, machten ihr nicht das geringste aus – Hauptsache, sie war drin!
Im Elming konnten die beiden zunächst nichts Besonderes entdecken. Viola, die eine Weile nicht hier gewesen war, schaute sich neugierig um und vergaß für den Augenblick die Gefahr, in die Zukunft verschlagen zu werden. Mo dachte zwar daran, glaubte aber nicht, daß etwas passieren könnte, solange sie der Stelle fernblieben, an der No gestern verschwunden war. Da er sich hier gut auskannte, zeigte er dem Mädchen seine Lieblingsplätze und Verstecke.
Inzwischen hatte man zu Hause ihr Verschwinden entdeckt und war in heller Aufregung. Ol und Vi kannten die Abenteuerlust ihrer Tochter zur Genüge. No wiederum konnte sich denken, daß sein Bruder nicht hinter ihm zurückstehen, sondern ihn möglichst noch übertrumpfen wollte.
»Sie sind bestimmt zum Tunnel gelaufen«, sagte No, »meinem Brüderchen wäre das zuzutrauen.«
»Viola auch«, erwiderte Vi, »manchmal ist sie mehr als unvernünftig. Zum Glück ist das Gebiet um die Tunnelöffnung durch den Schutzschild abgesperrt. Unsere Tochter kann nicht durch, und ich hoffe, Mo ist Kavalier genug, sie nicht allein zurückzulassen.«
Ol hoffte das gleichfalls, machte sich aber trotzdem Sorgen. Und wenn nun auch die unsichtbare Wand außer Kontrolle geriet? Er hatte Vi dargelegt, welche Gefahren mit dem defekten Tunnelsystem verbunden waren, diese letzte Befürchtung jedoch für sich behalten. Während seine Frau und No noch diskutierten, verließ er ohne ein Wort das Haus, machte sich zum Elming auf. Er nahm den kürzesten Weg, doch am Sperrkreis angelangt, hielt er vergeblich nach den Kindern Ausschau.
Sie sind drin, Viola ist irgendwie reingekommen, dachte Ol bestürzt. Hoffentlich erwische ich sie noch!
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