Langsam schwebte die Baronin auf Tom zu. Sie war immer noch gewaltig groß. Tom reichte ihr kaum bis zum Bauchnabel.
»Waaaas willst du hiiieeer?« zischte sie. »Das ist
meeeiiiin Reviieeer, verstanden?«
Tom atmete ganz tief durch. Bisher klappte ihr Plan. Jaspara ahnte nicht, wer da vor ihr stand. Und sie war wütend. Das machte sie blind.
»Hallo, Jaspara!« flötete Tom mit hoher Stimme. »Scheuuuußlich siiiehst du auuus. Scheußlich wie ii- iimmer.«
Verdammt, war das schwer, wie ein Geist zu reden.
»Waaaas?« kreischte Jaspara. »Waaas sagst du da- aaa, duuu Krööötengesicht?«
Jaspara stand jetzt so nah vor Tom, daß er sie hätte berühren können. Ihr schauriger Modergeruch nahm ihm fast den Atem. Aber wenn er auch nur einen Schritt von der Stelle wich, an der Jaspara damals das Schicksal ereilt hatte, dann war alles verloren.
Also nahm Tom allen Mut zusammen und reizte sie noch mehr: »Duuu Eeekelpakeeeheet!« rief er mit hoher Fistelstimme. »Duuuu altes Scheusaaaal.«
Da packte die Baronin zu.
Sie ergriff Toms Schleier und riß ihn ihm mit einem Ruck vom Kopf.
» Aaah!« Überrascht fuhr sie zurück. »Was iiiist daaas? Waaas soll das? Welches Spiehiehiel treibst duu- uu kleiner Kniiiirps mit miiihiiir? Mit miiiir, Jaspara von Duuhusterberg zuhuhu Krötenstein?«
Was sollte Tom darauf antworten? Daß er sie vernichten und in wabernden Nebel verwandeln
Jetzt ist es aus, dachte er, und ich steck' in diesem verdammten Kleid! Na ja, wenn sie 'ne Pfütze aus mir macht, ist das auch egal.
»Lauf, Tom!« rief Frau Kümmelsaft ihm durch das offene Autofenster zu. »Schnell!«
Aber Tom dachte gar nicht daran. Dieser Boccabella war schließlich auch nicht weggerannt. Statt dessen rief er mit bebender Stimme: »Verschwinde hier!« Seinen Kopf mußte er in den Nacken legen, um der Baronin in die bösen roten Augen zu sehen. »Verschwinde! Als Mensch warst du schon ein Scheusal, aber als Gespenst bist du wirklich das allerletzte!«
»Sooooo?« heulte Jaspara und beugte sich über ihn. Tom erstarrte. Ihm wurde so kalt, daß er kaum noch etwas spürte. Den Wind nicht, die Angst nicht - und schon gar nicht seine Füße.
Frau Kümmelsaft sprang aus dem Auto und kam auf sie zugerannt. Aber kurz vor der Brücke rutschte sie auf einer vereisten Pfütze aus und plumpste kopfüber in den Burggraben.
»Hierher!« hörte Tom Herrn Wurm rufen. »Hierher, Frau Kümmelsaft!«
Die Blutige Baronin beachtete den Tumult im Burggraben gar nicht. Sie hatte nur Augen für Tom. Immer tiefer beugte sie sich über ihn, mit einem Lächeln, das so abgrundtief böse war, daß Toms Zähne wieder unkontrolliert zu klappern begannen.
»Looß üüühn!« heulte Hugo plötzlich. Blau vor Wut schwabbelte er von der Burgmauer herunter. »Loß ühn ün Ruuuuhö!«
»Ach? Maaaagst du den Kleiiiinen?« hauchte Jaspara boshaft. »Daaaann siiiieh mal, waaas ich mit ihm ma- cheeeee.«
Wieder versuchte Hugo, nach ihrem Kopf zu greifen, aber diesmal war Jaspara auf der Hut. Heulend wirbelte sie herum, holte Luft und pustete das MUG in den nächsten Baum.
Na toll, dachte Tom, vielleicht sollte ich jetzt auch verschwinden. Aber seine Beine bewegten sich nicht von der Stelle.
»Soooooooo!« heulte die Blutige Baronin und funkelte ihn mit ihren roten Augen an. Diese Augen hatte er schon bei seiner Ankunft auf der Burg gespürt.
»Jetzt wiiieeeeder zuuuu diiir, Bürrrrschchen.« Wieder lächelte sie ihr abscheuliches Lächeln. »Aufschlüü- üürfen werde ich diiich!« hauchte sie. »Aaaah, das wird mir schmeeecken!«
Dann streckte sie ihre Hände aus.
Wie die Krallen eines Raubvogels schlossen sich ihre bleichen Finger um Toms Arme. Dabei berührten sie auch das Kleid - jenes Kleid, das ihren menschlichen Körper gewärmt hatte. Vor vielen hundert Jahren.
Tom spürte das Prickeln sofort, genau wie der berühmte Boccabella es beschrieben hatte.
»Iiiiiiiihhh!« kreischte Jaspara, und ihr Schrei klang so furchtbar und durchdringend, daß Tom sich die Hände auf die Ohren preßte.
Aber das gräßliche Zischen hörte er trotzdem - das Zischen, mit dem Jaspara sich auflöste. Ihr ganzer Körper wurde zuerst durchsichtig wie Milchglas. Dann zerriß er wie zerschlissenes Tuch und trieb mit dem Wind davon.

Urlaubsreif

»Tom!« rief Frau Kümmelsaft unter der Brücke. »Tom, wo bist du?«
»Alles in Ordnung!« rief Tom, obwohl sich seine Stimme ganz und gar nicht so anhörte.
»Brooovooo!« rief Hugo von seinem Baum herunter. »Ör hot sü vördohompft, vollkommön vördompft.«
Tom ging mit zitternden Knien zum Brückengeländer und sah hinunter.
»Oh, sehr erfreut, Sie zu sehen, junger Mann!« rief Herr Wurm und hielt seine Laterne hoch. Neben ihm saßen seine Frau und die tropfnasse Frau Kümmelsaft.
»Es war so ein furchtbarer - icks - Lärm da oben!« rief Frau Wurm. »Wir haben uns - icks - wirklich Sorgen gemacht.«
»Sie ist weg«, sagte Tom. »Aufgelöst, weggeweht, futsch. Professor Boccabellas Methode hat prima funktioniert!«
»Mein lieber Tom«, sagte Frau Kümmelsaft und putzte sich die tropfende Nase. »Mein lieber Tom, du bist ein haarsträubend verwegener Mensch! Wie konntest du nur so seelenruhig da stehenbleiben, als sie dir den Schleier wegriß? Nein, so was.«
»Och, na ja«, murmelte Tom verlegen. »War halb so schlimm.«
»Halb so schlimm?« rief Frau Kümmelsaft. »Das war das Leichtsinnigste, Verrückteste und Mutigste, was
ich je an Gespensterjägerei gesehen habe.
Mein altes Herz ist mir fast stehengeblieben. Und dann falle ich auch noch in den Wassergraben. Eine unglaubliche Blamage!« Kopfschüttelnd sah sie an sich herunter. »Nun ja, Schnee von gestern. Vielleicht sollte ich diesen nervenaufreibenden Beruf aufgeben und meine Memoiren schreiben.«
»Was?« Tom mußte furchtbar niesen. »O nein, bitte nicht. Aber könnten wir jetzt vielleicht ins Warme gehen? Wenn meine Zähne noch länger klappern, fallen sie mir bestimmt aus.«
»Ja, natürlich!« rief Herr Wurm. »Sofort! Auf der Stelle! Allerdings.« Er räusperte sich verlegen. »Allerdings habe ich vor Schreck die Ruder ins Wasser fallen lassen. Könnte Herr Hugo uns wohl liebenswürdigerweise ans Ufer ziehen?«
Hugo konnte, und während Tom sich vor dem Kamin erst mal aufwärmte, bereitete Frau Wurm in der Burgküche ein wunderbares Frühstück vor.
Draußen dämmerte ein kalter grauer Morgen herauf, aber in der riesigen Küche war es gemütlich und warm. Es duftete nach heißem Kakao und gebratenen Eiern, und Tom fühlte sich von den Zehenspitzen bis zum Scheitel außerordentlich wohl.
Wie Helden sich eben so fühlen.
Sie alle saßen zusammen an dem großen Holztisch, an dem früher die Dienerschaft der Burg gesessen hatte, aßen arme Ritter, Rosinenbrötchen mit Erdbeer- marmelade und Eier auf gesalzenem Toast. Ja, und Hugo schilderte noch einmal auf höchst eindrucksvolle Weise, wie Tom der gräßlichen Baronin den Garaus gemacht hatte. Schließlich hatte das MUG von seinem Baum aus eine erstklassige Sicht auf das Geschehen gehabt.
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