Pogue betastet die sechs aus Messing und Blei bestehenden .38er Patronen tief in seiner Tasche. Er sitzt in seinem weißen Buick in der Sonne und erinnert sich, dass er sich nie im Leben so mächtig gefühlt hat wie während seiner Gespräche mit Mrs. Arnette. Bei ihr war er Gott. Bei ihr war er das Gesetz.
Ich bin eine unglückliche alte Frau, und nichts klappt mehr, Edgar Allan, meinte sie bei ihrer letzten Begegnung. Mein Arzt wohnt auf der anderen Seite dieses Zauns und findet es lästig, nach mir zu sehen, Edgar Allan. Werden Sie bloß nie so alt.
Das werde ich nicht, versprach Pogue.
Die Leute auf der anderen Seite des Zauns sind komisch, erzählte sie mit einem anzüglichen Lachen, das wohl etwas andeuten sollte. Seine Frau ist eine richtige Schlampe. Kennen Sie sie?
Nein, Ma’am. Ich glaube nicht.
Da haben Sie nichts versäumt. Sie schüttelte den Kopf und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Gehen Sie ihr aus dem Weg.
Das werde ich, Mrs. Arnette. Wirklich schrecklich, dass Ihr Arzt sich nicht um Sie kümmert. So was sollte verboten werden.
Leute wie er kriegen, was sie verdienen, sagte sie vom Bett im Hinterzimmer ihres Hauses aus. Glauben Sie mir, Edgar Allan: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Ich kenne ihn jetzt schon so lange, und ich bin ihm lästig. Ganz bestimmt wird er nicht für mich unterschreiben.
Was meinen Sie damit?, fragte Pogue. Sie sah so klein und zerbrechlich aus, wie sie da in ihrem Bett lag, unter vielen Schichten von Laken und Decken, weil ihr einfach nicht mehr warm wurde.
Naja, wenn man geht, muss doch jemand unterschreiben, oder?
Natürlich. Der Hausarzt unterschreibt den Totenschein. Mit dem Sterben kannte Pogue sich aus.
Er wird zu beschäftigt sein. Denken Sie an meine Worte. Und dann? Schickt der liebe Gott mich dann wieder weg? Sie lachte, ein freudloses, raues Lachen. Das tut er sicher. Der liebe Gott und ich verstehen uns nämlich nicht sehr gut.
Das kann ich nachvollziehen, versicherte ihr Pogue. Aber machen Sie sich keine Sorgen, fügte er in dem Wissen, dass er in diesem Moment Gott war, hinzu. Gott war nämlich nicht Gott, Pogue war es. Wenn dieser Arzt auf der anderen Seite des Zauns nicht für Sie unterschreibt, Mrs. Arnette, kümmere ich mich darum.
Wie?
Es gibt Wege.
Sie sind der netteste junge Mann, den ich je kennen gelernt habe, sagte sie vom Bett aus. Ihre Mutter hat großes Glück mit Ihnen gehabt.
Da war sie aber anderer Ansicht.
Dann war sie eine böse Frau.
Ich unterschreibe selbst für Sie, versprach Pogue. Ich sehe diese Dokumente jeden Tag, und die Hälfte davon ist von Ärzten unterschrieben, denen alles gleichgültig ist.
Alles ist heutzutage gleichgültig, Edgar Allan.
Ich fälsche die Unterschrift, wenn es sein muss. Zerbrechen Sie sich also nicht den Kopf darüber.
Sie sind so ein Schatz. Was hätten Sie denn gerne von meinen Sachen? In meinem Testament steht, dass meine Verwandten dieses Haus nicht verkaufen können. Damit habe ich sie ordentlich drangekriegt. Sie können in meinem Haus wohnen, aber verraten Sie es meinen Verwandten nicht. Natürlich können Sie auch mein Auto haben, aber ich bin so lange nicht damit gefahren, dass vermutlich die Batterie leer ist. Ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird. Was wollen Sie? Sagen Sie es einfach. Ich wünschte, ich hätte einen Sohn wie Sie.
Ihre Zeitschriften, antwortete er. Die Filmzeitschriften.
Ach, du meine Güte. Die Dinger auf meinem Couchtisch? Habe ich Ihnen nie von meiner Zeit im Beverly Hills Hotel erzählt und von den Filmstars, die ich in der Polo Lounge und rings um die Bungalows gesehen habe?
Erzählen Sie es mir noch einmal. Ich liebe Hollywood mehr als alles andere auf der Welt.
Dieser Mistkerl, mit dem ich verheiratet war, ist einmal mit mir nach Beverly Hills gereist. Das muss ich ihm lassen. Wir haben uns wirklich großartig amüsiert. Ich liebe das Kino, Edgar Allan. Ich hoffe, dass Sie auch oft ins Kino gehen. Es gibt nichts Schöneres als einen guten Film.
Ja, Ma’am. Da haben Sie ganz Recht. Eines Tages will ich auch nach Hollywood.
Ja, dort sollten Sie hin. Wenn ich nicht so alt und wertlos wäre, würde ich mit Ihnen nach Hollywood fahren. Wir hätten solchen Spaß.
Sie sind nicht alt und wertlos, Mrs. Arnette. Möchten Sie meine Mutter kennen lernen? Ich könnte sie einmal mitbringen.
Dann trinken wir einen schönen Gin Tonic und essen dazu ein paar Quiches mit Würstchen, die ich so gerne mache.
Sie ist in einer Schachtel, erwiderte er.
Sie sagen aber seltsame Sachen.
Sie ist gestorben, aber ich habe sie in eine Schachtel getan.
Oh! Sie meinen ihre Asche.
Ja, Ma’am. Ich würde mich nie davon trennen.
Wie reizend. Um meine Asche wird sich keine Menschenseele kümmern, das garantiere ich Ihnen. Wissen Sie, was mit meiner Asche geschehen soll, Edgar Allan?
Nein, Ma’am.
Verstreuen Sie sie auf der anderen Seite dieses verdammten Zauns. Wieder lachte sie rau auf. Wenn ich Dr. Paulsson schon lästig war, kann ich wenigstens seinen Rasen düngen.
Oh, nein, Ma’am, dafür wäre Ihre Asche viel zu schade.
Tun Sie es. Sie werden es nicht bereuen. Gehen Sie ins Wohnzimmer, und holen Sie mir meine Handtasche.
Sie schrieb ihm einen Scheck über fünfhundert Dollar aus, einen Vorschuss, dass er ihre Wünsche erfüllte. Nachdem er den Scheck eingelöst hatte, kaufte er ihr eine Rose und plauderte nett mit ihr, während er sich die ganze Zeit die Hände mit einem Taschentuch abwischte.
Warum wischen Sie sich ständig Ihre Hände ab, Edgar Allan?, fragte sie vom Bett aus. Wir sollten die Plastikfolie von der hübschen Rose abmachen und die Blume in eine Vase stellen. Weshalb legen Sie sie in die Schublade?, erkundigte sie sich.
Damit Sie sie für immer behalten können. Und jetzt möchte ich, dass Sie sich kurz umdrehen.
Warum?
Tun Sie es einfach. Sie werden schon sehen.
Er half ihr beim Umdrehen. Sie wog fast nichts mehr. Dann setzte er sich auf ihren Rücken und steckte ihr das weiße Taschentuch in den Mund, damit sie still war.
Sie reden zu viel, sagte er. Und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Sie hätten nicht so viel reden sollen, fuhr er fort, während er ihre Hände auf dem Bett festhielt. Er spürt immer noch, wie ihr Kopf zuckte, und auch ihr schwaches Sträuben, als er ihr den Atem raubte. Als sie sich nicht mehr bewegte, ließ er ihre Hände los und entfernte vorsichtig das weiße Taschentuch aus ihrem Mund. Er saß auf ihr und vergewisserte sich, dass sie ruhig blieb und nichts mehr sagte, während er genauso mit ihr sprach wie mit dem Mädchen, der Tochter des Arztes, der im Haus komische Dinge tat. Dinge, die Pogue nie hätte sehen dürfen.
Er zuckt zusammen, als jemand laut an die Fensterscheibe seines Wagens pocht. Pogue öffnet die Augen und ringt hustend nach Luft. Draußen steht grinsend ein großer Schwarzer, klopft mit seinem Ring an die Scheibe und hält eine große Schachtel M&M-Schokolinsen hoch.
»Fünf Dollar«, ruft der Mann. »Es ist für meine Kirche.« Pogue lässt den Motor an und legt den Rückwärtsgang ein.
Dr. Stanley Philpotts Praxis in Fan, dem »Fächer« von Richmond, ist in einem weiß verputzten Reihenhaus aus Backstein in der Main Street untergebracht. Er ist Allgemeinmediziner und war entgegenkommend, als Scarpetta ihn spät am gestrigen Abend anrief, um mit ihm über Edgar Allan Pogue zu sprechen.
»Sie wissen doch, dass ich keine Auskünfte über meine Patienten geben darf«, war seine erste Reaktion.
»Die Polizei kann sich auch eine richterliche Anordnung besorgen«, erwiderte sie. »Wäre Ihnen das lieber?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich muss mit Ihnen über ihn reden. Kann ich gleich morgen früh in Ihre Praxis kommen?«, meinte sie. »Ich fürchte, sonst würde die Polizei Mittel und Wege finden, Sie zu befragen.«
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