Fast ihr halbes Leben lang hat sie heimlich in Duschen geweint. Als sie beim FBI anfing, war sie noch eine Schülerin, die dank ihrer einflussreichen Tante in den Sommerferien Jobs und Praktika bekam. Sie war eigentlich noch viel zu jung, um in Quantico in einem Schlafsaal zu leben, Waffen abzufeuern und sich mit Agents, die nie in Panik gerieten oder weinten, durch Hindernisparcours zu kämpfen. Zumindest hat sie sie nie panisch oder weinend gesehen und deshalb angenommen, dass sie es auch nie waren. Damals hat sie noch viele Mythen geschluckt, weil sie jung, leichtgläubig und voller Ehrfurcht war. Inzwischen weiß sie es vielleicht besser, doch die Programmierung der frühen Jahre ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn sie weint, was sie nur selten tut, weint sie allein. Und wenn sie Schmerzen hat, verheimlicht sie es.
Sie ist schon fast angezogen, als ihr die Stille auffällt. Leise vor sich hin fluchend und plötzlich hektisch, kramt sie aus einer Tasche ihrer Skijacke das Mobiltelefon hervor. Der Akku ist leer. Gestern Abend war sie zu müde und unglücklich, um an ihr Telefon zu denken. Sie hat es in der Tasche vergessen, was ihr bis jetzt noch nie passiert ist. Rudy weiß nicht, wo sie ist. Ihre Tante ebenso wenig. Da sie beide den falschen Namen, unter dem sie abgestiegen ist, nicht kennen, würden sie sie auch nicht finden, wenn sie es im St. Regis versuchten. Benton ist als Einziger im Bilde. Es ist unfair und unprofessionell, Rudy so auszuschließen, und er wird sicher wütend auf sie sein. Ausgerechnet jetzt darf sie ihn nicht noch mehr verärgern. Was ist, wenn er kündigt? Keinem ihrer Mitarbeiter vertraut sie so sehr wie ihm. Sie nimmt das Ladegerät, steckt das Telefon hinein und schaltet es ein. Sie hat elf Nachrichten. Die meisten davon wurden um sechs Uhr morgens Ostküstenzeit hinterlassen und stammen von ihm.
»Ich dachte schon, du wärst vom Erdboden verschluckt worden«, lauten Rudys erste Worte. »Seit drei Stunden versuche ich, dich zu erreichen. Was machst du bloß? Sag jetzt nicht, das Telefon funktioniert nicht. Das würde ich dir nicht glauben. Es funktioniert überall, und ich habe es auch über Funk probiert. Du hattest das Scheißding abgeschaltet, stimmt’s?«
»Beruhige dich, Rudy«, erwidert sie. »Mein Akku war leer. Telefon und Funkgerät funktionieren nicht ohne Akku. Entschuldige.«
»Hast du kein Ladegerät dabei?«
»Ich habe mich entschuldigt, Rudy.«
»Tja, ich habe ein paar Informationen. Wäre gut, wenn du so schnell wie möglich zurückkommst.«
»Was ist los?« Lucy setzt sich neben der Steckdose, in die ihr Telefon eingestöpselt ist, auf den Boden.
»Leider bist du nicht die Einzige, die ein kleines Geschenk bekommen hat. Eine bedauernswerte alte Frau hat auch eine Bombe von Pogue gekriegt, und sie hatte weniger Glück als du.«
»Mein Gott«, sagt Lucy und schließt die Augen.
»Sie ist Kellnerin in einer Kaschemme in Hollywood, gleich gegenüber von einer Shell-Tankstelle. Und weißt du was? Dort gibt es Halb-Liter-Becher, auf denen die Katze mit Hut abgebildet ist. Das Opfer hat ziemlich schwere Verbrennungen erlitten, wird aber durchkommen. Offenbar war Pogue Gast in dem Laden, in dem sie arbeitet, der Other Way Lounge. Sagt dir das was?«
»Nein«, antwortet Lucy mit fast unhörbarer Stimme und denkt an die Frau mit den Brandverletzungen. »O mein Gott«, murmelt sie.
»Wir befragen gerade sämtliche Anwohner. Ich habe ein paar von unseren Leuten losgeschickt, aber keinen von den Neuen. Die sind nämlich nicht sehr hell.«
»Mein Gott«, wiederholt sie nur. »Klappt denn überhaupt nichts mehr?«
»Allmählich bessert sich die Lage. Ach, da wären noch zwei Dinge. Deine Tante meint, dass Pogue möglicherweise eine Perücke trägt, und zwar eine mit langen schwarzen Locken. Gefärbtes menschliches Haar. Die Mitochondrien-DNS sieht da sicher ziemlich komisch aus und lässt sich vermutlich auf irgendeine Nutte zurückverfolgen, die ihr Haar an einen Perückenmacher verhökert hat, um sich Crack zu kaufen.«
»Was sagst du da? Eine Perücke?«
»Edgar Allan Pogue ist rothaarig. Deine Tante hat rote Haare im Bett seines Hauses gefunden, das heißt, in dem Haus in Richmond, wo er gewohnt hat. Eine Perücke könnte die Erklärung für die langen, gewellten gefärbten Haare sein, die in Gilly Paulssons Bettwäsche, in deinem Schlafzimmer und auch an dem Isolierband der Bombe in deinem Briefkasten entdeckt wurden. Nach Ansicht deiner Tante würde eine Perücke auch viele andere Fragen beantworten. Außerdem suchen wir sein Auto. Offenbar hat die alte Frau, die verstorbene Bewohnerin des Hauses, in dem er sich versteckt hatte, einen weißen 91er Buick gefahren. Niemand hat eine Ahnung, was nach ihrem Tod aus dem Wagen geworden ist. Die Familie hat sich nicht darum gekümmert. Scheint so, als wäre die Frau selbst ihnen auch egal gewesen. Wir glauben, dass Pogue diesen Buick benutzt, der immer noch auf Mrs. Arnette zugelassen ist. Es wäre gut, wenn du so bald wie möglich zurückkommst. Allerdings solltest du besser nicht bei dir zu Hause übernachten.«
»Keine Sorge«, erwidert sie. »In dieses Haus setze ich keinen Fuß mehr.«
Edgar Allan Pogue schließt die Augen. Er sitzt in seinem weißen Buick auf einem Parkplatz am Highway A1A und hört Musik, die heutzutage Classic Rock heißt. Die Augen fest geschlossen, versucht er, den Husten zu unterdrücken. Wenn er hustet, brennen ihm die Lungen, und ihm wird schwindelig und kalt. Er weiß nicht, wo das Wochenende geblieben ist, aber alles ist gut gelaufen. Der Radiosprecher sagt etwas von Berufsverkehr. Montagmorgen. Pogue hustet, und Tränen treten ihm in die Augen, als er mühsam durchatmet.
Er hat eine Erkältung. Bestimmt hat er sich bei der rothaarigen Kellnerin in der Other Way Lounge angesteckt. Als er sich am Freitagabend verabschieden wollte, ist sie nah an seinen Tisch getreten. Sie hat sich die Nase mit einem Papiertaschentuch geputzt und stand viel zu dicht bei ihm, weil sie sichergehen wollte, dass er auch bezahlt. Wie immer musste er zuerst seinen Stuhl zurückschieben und aufstehen, bevor sie ihn eines Blickes würdigte. Eigentlich hätte er Lust auf einen weiteren Bleeding Sunset gehabt und hätte auch noch einen bestellt, aber das war der rothaarigen Kellnerin offenbar zu lästig. Diesen Weibern ist alles zu lästig. Deshalb hat sie auch die Große Orange bekommen, die sie verdient.
Die Sonne scheint durch die Windschutzscheibe und wärmt Pogues Gesicht. Er hat den Sitz zurückgeschoben und die Augen geschlossen und hofft, dass die Sonne seine Erkältung kurieren wird. Seine Mutter hat immer gesagt, dass Sonnenlicht Vitamine enthält und fast alles heilen kann. Deshalb ziehen die Leute im Alter ja auch nach Florida. Das hat sie ihm immer gepredigt. Eines Tages, Edgar Allan, ziehst du nach Florida. Noch bist du jung, doch eines Tages wirst du alt und abgearbeitet sein wie ich und die meisten anderen Leute, und dann kannst du nach Florida ziehen. Wenn du nur eine anständige Arbeit hättest, Edgar Allan. Bei deinem Gehalt bezweifle ich, dass du dir Florida je leisten kannst.
Seine Mutter hat ständig über Geld gejammert und lag ihm damit pausenlos in den Ohren. Schließlich ist sie gestorben und hat ihm viel Geld hinterlassen, damit er eines Tages nach Florida ziehen kann, falls er das will. Dann ist er in Frührente gegangen, und alle zwei Wochen kam ein Scheck mit der Post. Wahrscheinlich liegt der letzte Scheck inzwischen in seinem Postfach, weil er nicht in Richmond ist, um ihn abzuholen. Aber auch ohne seine Schecks hat er etwas Geld. Momentan genügt es noch. Er kann sich seine teuren Zigarren leisten, also reicht es. Wenn seine Mutter hier wäre, würde sie ihm Vorhaltungen machen, weil er trotz seiner Erkältung raucht. Aber er wird jetzt eine Zigarre rauchen. Er denkt daran, dass er die Grippeimpfung verpasst hat, und das nur deshalb, weil er gehört hatte, dass sein altes Gebäude abgerissen werden solle und dass der große Fisch ein Büro in Hollywood eröffnen wolle. In Florida.
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