Patricia Cornwell - Staub

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Kay Scarpetta wird von ihrem Nachfolger in Richmond, Virginia, gebeten, bei einem rätselhaften Todesfall zu helfen. Ein vierzehnjähriges Mädchen ist scheinbar ohne erkennbare Ursache gestorben. Hat man bei der Autopsie womöglich etwas übersehen? Scarpetta ist entsetzt über die Schlamperei, die an ihrer alten Wirkungsstätte Einzug gehalten hat. Als sie eine weitere Leiche in Augenschein nimmt, entdeckt sie eine alarmierende Parallele zum Fall des toten Mädchens: feine Spuren von Knochenstaub auf dem Körper. Allem Anschein nach hat der Täter im Krematorium der Gerichtsmedizin gearbeitet …

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Patricia Cornwell

Staub

Für Ruth und Billy Graham.

Ich kenne niemanden, der so ist wie ihr, und ich liebe euch.

Ich danke Julia Cameron, die mich auf meinem künstlerischen Weg begleitet hat.

Für Charlie und Marty und Irene.

Ihr alle habt es möglich gemacht.

1

Die gelben Bulldozer und Bagger legen einen alten Gebäudekomplex, der mehr Tote gesehen hat als die meisten Schlachtfelder der Moderne, in Schutt und Asche. Kay Scarpetta bremst ihren gemieteten Geländewagen ab, bis er fast steht. Erschüttert betrachtet sie das Werk der Zerstörung und sieht zu, wie die senf-farbenen Baumaschinen ihre Vergangenheit zu Staub verfallen lassen.

Jemand hätte es mir sagen sollen, sagt sie.

Eigentlich wollte sie an diesem grauen Dezembermorgen nur ganz unschuldig in Erinnerungen schwelgen und an ihrer alten Arbeitsstätte vorbeifahren. Sie ahnt nicht, dass das Haus gerade abgerissen wird. Das hätte ihr wirklich jemand erzählen können. Einfach nur der Höflichkeit halber hätte man es erwähnen müssen: »Ach, übrigens, das Gebäude, in dem du gearbeitet hast, als du noch jung und voller Hoffnungen und Träume warst und an die Liebe geglaubt hast, das alte Gebäude, das du immer noch vermisst und für das du so viel empfindest, wird gerade abgerissen.«

Ein Bulldozer stürmt mit angriffslustig gereckter Schaufel voran. Seine lautstarke, maschinengetriebene Zerstörungswut scheint eine Warnung, ein Alarmsignal zu sein. Ich hätte besser hinhören sollen, denkt sie, während sie den rissigen, zerborstenen Beton betrachtet. Der Fassade ihrer alten Wirkungsstätte fehlt schon das halbe Gesicht. Sie wäre gut beraten gewesen, auf ihre Gefühle zu hören, als man sie gebeten hat, nach Richmond zurückzukehren.

»Ich habe einen Fall, bei dem Sie mir vielleicht helfen können«, meinte Dr. Joel Marcus, der derzeitige Chefpathologe des Staates Virginia, der Mann also, der Scarpettas Platz eingenommen hat. Erst gestern Nachmittag hat er sie angerufen.

»Natürlich, Dr. Marcus«, sprach sie ins Telefon, während sie in der Küche ihres Hauses in Südflorida auf und ab ging. »Was kann ich für Sie tun?«

»Eine Vierzehnjährige wurde tot in ihrem Bett aufgefunden. Das war vor zwei Wochen um die Mittagszeit. Sie war krank, hatte die Grippe.«

Scarpetta hätte ihn fragen sollen, warum er sie angerufen hat. Warum ausgerechnet sie? Aber sie hat ihre Gefühle ignoriert. »Also war sie nicht in der Schule?«, erkundigte sie sich.

»Genau.«

»War sie allein?« Den Hörer unters Kinn geklemmt, rührte sie in einer Mischung aus Bourbon, Honig und Olivenöl herum.

»Ja.«

»Wer hat sie gefunden, und was ist die Todesursache?« Sie goss die Marinade in einen Gefrierbeutel aus Plastik, in dem sich ein mageres Sirloin-Steak befand.

»Ihre Mutter. Die Todesursache steht noch nicht fest«, erwiderte er. »Nichts Verdächtiges, nur dass sie, wenn man danach geht, was wir gefunden oder besser nicht gefunden haben, eigentlich noch leben müsste.«

Scarpetta legte den Plastikbeutel mit dem Fleisch und der Marinade in den Kühlschrank, zog die Kartoffelschublade auf und schloss sie wieder, weil sie es sich anders überlegt und beschlossen hatte, keine Kartoffeln zu kochen, sondern lieber Vollkornbrot zu backen. Sie konnte nicht still stehen, geschweige denn sitzen, war nervös und tat alles, um sich das nicht anmerken zu lassen. Warum rief er ausgerechnet sie an? Sie hätte ihn danach fragen sollen.

»Wer wohnt noch in ihrem Haushalt?«, erkundigte sich Scarpetta.

»Ich würde die Einzelheiten lieber persönlich mit Ihnen besprechen«, erwiderte Dr. Marcus. »Der Fall ist recht heikel.«

Beinahe hätte Scarpetta erwidert, dass sie gerade im Begriff sei, zu einem zweiwöchigen Urlaub nach Aspen in Colorado aufzubrechen, aber sie bekam die Worte nicht heraus, weil sie nicht mehr stimmten. Obwohl sie es schon seit Monaten geplant hatte, würde sie nicht nach Aspen fahren. Die Reise war abgesagt. Sie brachte es nicht über sich zu lügen, verschanzte sich stattdessen hinter ihrem Beruf und flüchtete sich in die Ausrede, sie könne nicht nach Richmond kommen, weil sie gerade mitten in einem schwierigen Fall stecke, einem komplizierten Fall, Tod durch Erhängen, die Familie des Toten weigere sich, an Selbstmord zu glauben.

»Was ist bei Erhängen denn das Problem?«, fragte Dr. Marcus. »Rassistischer Hintergrund?«

»Er ist auf einen Baum gestiegen, hat sich ein Seil um den Hals gelegt und die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, für den Fall, dass er es sich doch noch anders überlegen könnte«, entgegnete sie und öffnete eine Schranktür in ihrer hellen, freundlich wirkenden Küche. »Als er vom Ast gestiegen und gefallen ist, ist sein zweiter Halswirbel gebrochen. Das Seil hat ihm die Kopfhaut zurückgeschoben, sodass es aussah, als runzle er die Stirn und litte Schmerzen. Und jetzt versuchen Sie mal, das und die Handschellen seiner Familie in Mississippi zu erklären, und zwar im allertiefsten Mississippi, wo Army-Klamotten normal sind und schwule Männer nicht.«

»Ich war noch nie in Mississippi«, antwortete Dr. Marcus gleichgültig, als wollte er damit ausdrücken, dass ihn weder der Erhängte noch sonst irgendeine Tragödie, die keine direkten Auswirkungen auf sein Leben hatte, interessierte.

»Ich würde Ihnen ja gern helfen«, meinte Scarpetta, während sie eine noch unangebrochene Flasche naturtrübes Olivenöl öffnete, obwohl das nicht unbedingt jetzt hätte sein müssen. »Aber es ist vermutlich keine gute Idee, wenn ich mich in einen Ihrer Fälle einmische.«

Sie war wütend, gestand es sich aber nicht ein, als sie in ihrer großen, gut ausgestatteten Küche mit den Geräten aus Edelstahl, den Arbeitsflächen aus poliertem Granit und den großen, hellen Fenstern, die einen Blick auf den Intracoastal Waterway boten, umherging. Sie ärgerte sich wegen Aspen, wollte es sich jedoch nicht eingestehen. Und obwohl sie wütend war, wollte sie Dr. Marcus nicht durch einen Wink mit dem Zaunpfahl darauf hinweisen, dass er nun die Vorzüge eben des Postens genoss, den man ihr weggenommen hatte. Das war auch der Grund, warum sie Virginia verlassen hatte, und sie hatte eigentlich nicht vor, je dorthin zurückzukehren. Aber sein langes Schweigen ließ ihr keine Wahl, als weiterzusprechen und ihm zu erklären, dass sie nicht in aller Freundschaft aus Richmond fortgegangen sei, was er doch sicher wisse.

»Kay, das ist doch schon lange her«, erwiderte er. Sie hatte sich für die professionelle und respektvolle Anrede Dr. Marcus entschieden, und nun nannte er sie einfach Kay. Es erschreckte sie selbst, dass sie das als beleidigend empfand. Aber dann sagte sie sich, dass er nur eine freundschaftliche und persönliche Atmosphäre schaffen wollte, während sie überempfindlich und übertrieben reagierte. Sie fragte sich, ob sie nur neidisch auf ihn war und sich wünschte, dass er scheiterte, und schalt sich im nächsten Moment wegen ihrer eigenen Kleinlichkeit. Es war doch nur verständlich, dass er sie Kay und nicht Dr. Scarpetta nannte, hielt sie sich vor Augen, obwohl ihr Gefühl das Gegenteil sagte.

»Wir haben inzwischen eine andere Gouverneurin«, fuhr er fort. »Vermutlich weiß sie gar nicht, wer Sie sind.«

Nun deutete er an, Scarpetta sei so unwichtig und unbedeutend, dass sie der Gouverneurin sicherlich kein Begriff wäre. Dr. Marcus hatte sie schon wieder beleidigt. Unsinn, rief sie sich sofort zur Ordnung.

»Bei unserer neuen Gouverneurin dreht sich alles um unser augenblickliches Haushaltsdefizit und um die vielen potenziellen terroristischen Angriffsziele, die wir hier in Virginia bieten …«

Scarpetta konnte sich selbst ihre negative Haltung gegenüber ihrem Nachfolger nicht verzeihen. Schließlich bat er sie nur um Hilfe in einem schwierigen Fall. Warum hätte er sich nicht an sie wenden sollen? Schließlich kam es nicht selten vor, dass Manager, die von einem Großkonzern gefeuert wurden, später als Experten und Berater gefragt waren. Außerdem würde sie ja, wie sie sich vor Augen hielt, ohnehin nicht nach Aspen fahren.

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