Und Lewis D'Orsey stand nicht etwa allein da. Es gab etliche Finanzpropheten, die seine Meinung teilten, wenn sie auch wenig populär waren und oft verspottet wurden, zum Teil wohl deshalb, weil kein Mensch gern an die Apokalypse glaubt -schon gar nicht die Banker.
Aber es fügte sich so, daß Alex neuerdings in zweifacher Hinsicht ähnlich dachte wie Lewis. Einmal war er überzeugt davon, daß Sparsamkeit und maßvolles Wirtschaften dringend nötig seien - aus diesem Grunde hatte Alex vor einer Woche in seiner Rede vor dem Direktorium die Bedeutung von Spareinlagen so stark herausgestrichen. Zum anderen empfand er Unbehagen angesichts der Aufblähung der individuellen Schuldenlast infolge der sich rasch vermehrenden Kreditnahme, insbesondere und vor allem auf dem Wege über jene kleinen Karten aus Plastik.
Er drehte sich wieder um und sah Lewis ins Gesicht. »Nehmen wir einmal an, Sie seien ein kleiner Sparer, der sein bißchen Geld in US-Dollar angelegt hat, und nehmen wir weiter an, Sie glauben fest an den bevorstehenden Zusammenbruch. Bei was für einer Bank hätten Sie dann Ihr Geld am liebsten?«
Ohne zu zögern, sagte Lewis: »Bei einer großen. Kommt der Krach, dann brechen die kleinen Banken zuerst zusammen. So war es in den zwanziger Jahren, als die Kleinbanken wie die Kegel purzelten, und so wird es wieder sein, denn die kleinen Banken haben nicht genug Bargeld, um eine Panik und einen Run auf die Schalter überleben zu können. Übrigens können Sie die Bundes-Einlagenversicherung ruhig vergessen. Das Geld macht weniger als ein Prozent aller Bankeinlagen aus, nicht annähernd genug, um eine Kettenreaktion von Bankkrächen im ganzen Land abzufangen.«
Lewis dachte einen Augenblick lang nach und fuhr dann fort: »Aber nächstes Mal werden nicht nur die kleinen Banken kaputtgehen. Es wird auch ein paar von den großen treffen - und zwar diejenigen, die zu viele Millionen in großen Industriekrediten stecken haben; die einen zu hohen Prozentsatz an internationalen Einlagen haben - heißes Geld, das über Nacht verschwinden kann; die nicht liquide genug sind, wenn verängstigte Sparer Bargeld sehen wollen. Wäre ich also der Sparer, von dem Sie reden, Alex, dann würde ich die Bilanzen der Großbanken studieren und mir eine aussuchen, bei der das Verhältnis Kredite zu Einlagen niedrig ist und die über eine breite Basis an einheimischen Sparern verfügt.«
»Na, das ist ja fein«, sagte Edwina. »Es fügt sich so, daß FMA alle diese Voraussetzungen erfüllt.«
Alex nickte. »Im Augenblick.« Aber dieses Bild könnte sich ändern, dachte er, wenn das Direktorium Roscoe Heywards Plänen für neue und massive Industriekredite zustimmte.
Dieser Gedanke erinnerte ihn daran, daß sich die Direktoren der Bank in zwei Tagen versammeln würden, um ihre vor einer Woche unterbrochene Sitzung wiederaufzunehmen.
Jetzt verlangsamte der Wagen seine Fahrt, stoppte, fuhr wieder ein kleines Stück und hielt dann erneut. Sie hatten den Friedhof erreicht.
Türen der anderen Wagen öffneten sich, Menschen stiegen aus. Sie trugen Schirme oder hielten Mantelkragen vorn zusammen, vorgebeugt gegen Kälte und dicht fallenden Schnee. Der Sarg wurde vom Leichenwagen gehoben. Bald war auch er von Schnee bedeckt.
Margot nahm Alex' Arm und schloß sich mit den D'Orseys der stillen Prozession an, die Ben Rosselli zu seinem Grabe folgte.
Einer vorherigen Absprache gemäß, nahmen Roscoe Heyward und Alex Vandervoort an der wiederaufgenommenen Sitzung des Direktoriums nicht teil. Jeder wartete in seinem Büro darauf, daß man ihn rief.
Der Ruf kam kurz vor Mittag, zwei Stunden, nachdem das Direktorium die Diskussion eröffnet hatte. Ebenfalls gerufen wurde der Vizepräsident für die Öffentlichkeitsarbeit der Bank, Dick French, der eine Presseerklärung über den neuen FMA-Präsidenten herauszugeben haben würde.
Der Public-Relations-Chef hatte schon zwei Presseerklärungen, komplett mit Porträtfotos, vorbereiten lassen.
Die Schlagzeilen der beiden Erklärungen lauteten:
ROSCOE D. HEYWARD
NEUER PRÄSIDENT DER FIRST
MERCANTILE AMERICAN BANK
ALEXANDER VANDERVOORT
NEUER PRÄSIDENT DER FIRST MERCANTILE
AMERICAN BANK
Die Briefumschläge waren fertig adressiert. Die Boten standen bereit. Vorrangexemplare der einen oder der anderen Erklärung sollten noch an diesem Nachmittag den Nachrichtenagenturen, den Wirtschaftsredaktionen der Zeitungen sowie den Fernseh- und Rundfunkstationen zugestellt werden. Mehrere hundert andere Exemplare würden mit der Abendpost per Eilboten hinausgehen.
Heyward und Alex trafen gleichzeitig im Sitzungszimmer ein.
Sie glitten auf ihre angestammten Plätze.
Der PR-Chef stand abwartend hinter dem Vorsitzenden Jerome Patterton.
The Hon. Harold Austin, der diesem Gremium am längsten angehörte, gab die Entscheidung des Direktoriums bekannt, Jerome Patterton, erklärte er, bislang Stellvertretender Vorsitzender des Direktoriums, werde mit sofortiger Wirkung die Präsidentschaft der First Mercantile American Bank übernehmen.
Während diese Erklärung abgegeben wurde, schien der soeben Ernannte selbst wie betäubt zu sein.
Der PR-Chef formte mit den Lippen unhörbar die Worte: »Oh, Scheiße!«
Später an diesem Tag führte Jerome Patterton getrennte Gespräche mit Heyward und Vandervoort.
»Ich bin ein Interimspapst«, sagte er zu beiden. »Ich habe mich, wie Sie wissen, nicht um diesen Posten bemüht. Sie wissen ferner - ebenso wie die Direktoren -, daß mich nur noch dreizehn Monate von der Pensionierung trennen.
Aber das Direktorium konnte sich nicht auf einen von Ihnen einigen; durch meine Ernennung gewinnt es die Zeit, um sich endgültig zu entscheiden.
Was dann geschieht, weiß ich ebensowenig wie Sie. Inzwischen aber will ich mein Bestes geben, und dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich weiß, daß ich sie von Ihnen bekommen werde, da es ja auch zu Ihrem eigenen Vorteil ist.
Davon abgesehen, kann ich nur eins versprechen, und das ist ein interessantes Jahr.«
Schon vor Beginn der Ausschachtungsarbeiten hatte sich Margot Bracken aktiv bei Forum East engagiert. Zu Anfang als Rechtsberaterin einer Bürgergruppe, die darum kämpfte, das Projekt aus der Taufe zu heben, und später übernahm sie die gleiche Funktion für einen Mieterverband. Darüber hinaus erteilte sie Familien im Entwicklungsgebiet Rechtsauskünfte -für geringes oder gar kein Entgelt. Margot ging oft nach Forum East, und dabei lernte sie viele der in diesem Viertel lebenden Menschen kennen; unter anderen Juanita Nünez.
Drei Tage nach Ben Rossellis Beerdigung - an einem Samstagmorgen - traf Margot die junge Frau in einem Feinkostgeschäft, das sich in einer der Ladenstraßen von Forum East befand.
Der Komplex Forum East war als homogene Wohngemeinschaft mit Billigmieten geplant - attraktiven Apartments, Einzelhäusern und renovierten Altbauten. Es gab Sportanlagen, ein Kino, einen Konzert-, Vortrags- und Theatersaal sowie Ladengeschäfte und Cafés. Die bisher fertiggestellten neuen Gebäude waren durch baumbestandene Alleen und Fußgängerbrücken verbunden - man hatte viele Ideen vom Golden Gateway in San Francisco entlehnt und vom Barbican-Projekt in London. Andere Abschnitte des Projekts waren im Bau, wieder andere befanden sich noch im Planungsstadium und warteten auf die Finanzierung.
»Hallo, Mrs. Nünez«, sagte Margot. »Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir?«
Auf einer Terrasse neben dem Feinkostgeschäft tranken sie ihren Espresso und plauderten - über Juanita, ihre Tochter Estela, die an diesem Vormittag an dem von der Gemeinschaft eingerichteten Ballettunterricht teilnahm, und über die Fortschritte in Forum East. Juanita und Carlos, ihr Mann, hatten zu den ersten Mietern des Entwicklungsprojekts gehört. Sie hatten eine winzige Wohnung in einem der renovierten Altbauten bezogen; aber kurz danach war Carlos mit unbekanntem Ziel verschwunden. Bisher war es Juanita gelungen, die Wohnung zu halten.
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