Gedanken und Erinnerungen an Broken Ridge führten unweigerlich zu Gedanken und Erinnerungen an ihre Heimat. Nicht, dass der Ort, an dem sie aufgewachsen war, es jemals verdient hatte, Heimat genannt zu werden. Teufelskind , konnte sie ihre Mutter förmlich sagen hören, genauso klar und deutlich wie damals, als sie acht Jahre alt gewesen war und neben ihrem Bett kauernd die Hände zu einem vorgetäuschten Gebet falten musste.
Zoe atmete tief durch und zählte dabei die Sekunden. Drei Sekunden einatmen, vier Sekunden ausatmen. Einen Moment lang hatte sie fast das Gefühl, die Wärme einer tropischen Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren, als sie ihre Augen schloss und sowohl die einengende Umgebung des Flugzeugs als auch die Erinnerungen, die sie bedrückten, ausblendete.
Sie öffnete die Augen, wieder konzentriert und ruhig. „Was wissen wir über die Opfer?“, fragte sie.
„Hier“, sagte Shelley und reichte ihr ein einzelnes Blatt Papier. Sie behielt ein weiteres für sich und begann, laut vorzulesen. „Das erste Opfer wurde anhand des Ausweises, das es in seiner Tasche trug, als Michelle Young identifiziert. Es konnten anhand des Gesichtes identifizieren werden, da der Kopf fehlte.“
Zoe fluchte leise. „Und sie haben ihn immer noch nicht?“
Shelley schüttelte den Kopf. „Aber es gibt ein relativ aktuelles Foto. Hier.“ Sie hielt ein Bild einer lächelnden Blondine hoch, die direkt in die Kamera blickte. Jemand hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, wobei der Besitzer des Arms ausgeschnitten worden war. „Sieht aus, als wäre der Kopf mit etwas Scharfem abgetrennt worden, möglicherweise mit einer Art Schwert. Die erste Untersuchung der Schnittstellen lässt auf eine lange Klinge schließen, möglicherweise eine Machete. Sie war Anfang dreißig, eins vierundsiebzig, zweiundsiebzig Kilo. Keine Tätowierungen. Hat als Kassiererin in einer Bank gearbeitet. Sie war diejenige, die aus dem Nachbarort kam – Easternville.“
Zoe folgte ihrem Zeichen, als Shelley nach oben sah, fertig mit den Details ihres Berichts. „Ich habe Lorna Troye“, las sie vor. „Ihr Kopf hat auch gefehlt. Zweiunddreißig Jahre alt, eins siebzig, achtundfünfzig Kilo. Offenbar war sie freiberufliche Illustratorin. Hier ist ein Foto.“
Die beiden betrachteten das Bild von Lorna, das von der Profilseite ihrer eigenen Website stammte. Sie lächelte freundlich in die Kamera, obwohl sie darauf eine seriöse und professionelle Pose eingenommen hatte. In ihrer Hand hielt sie einen Bleistift. Darunter lag ein Skizzenblock – ganz so, als ob sie jederzeit bereit wäre, mit der Arbeit zu beginnen.
Zoe und Shelley schwiegen sich einen Moment lang an, während sie sich die Bilder der beiden toten Frauen ansahen. Die eine war blond gewesen, die andere brünett – genau wie Shelley und Zoe selbst. Zoe war sogar ungefähr im gleichen Alter, Shelley ein paar Jahre jünger.
Das Schicksal liegt in Gottes Hand , hieß es. Es hätte auch sie treffen können. Aber da Zoe mit dem Glauben an das, was ihre Mutter ihr gesagt hatte – nämlich dass Zoe das Blut des Teufels in den Adern trug, weil sie überall Zahlen sehen konnte – auch den Glauben an Gott aufgegeben hatte, wurde sie daraus nicht schlau.
„Wir landen bald“, sagte Shelley und unterdrückte ein Gähnen. „Wir sollten uns bereit machen.“
Bereit machen, dachte Zoe. Und wie genau sollte man sich darauf vorbereiten an genau dem einen Ort zu landen, vor dem man sein ganzes Leben lang weggerannt war?
Sie schnallte sich an, wohl wissend, dass sie keine andere Wahl hatte.
Die frühe Morgensonne warf alles in ein schimmerndes Licht, als Zoe Shelley zögernd über den Parkplatz folgte. Es beschlich sie das unangenehme Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, der ihr zwar irgendwie bekannt vorkam, an den sie sich aber nicht gut genug erinnern konnte, um sich hier sicher zu fühlen.
Und dann schwirrte da auch noch ein anderer Gedanke in ihrem Hinterkopf herum – und zwar die Befürchtung, dass sie hier, in unmittelbarer Nähe ihres Heimatortes, jederzeit jemanden treffen konnte, den sie kannte. Auf dem Parkplatz standen jede Menge Behördenfahrzeuge – der Van des Gerichtsmediziners, Streifenwagen der örtlichen Polizei und die Autos vieler anderer Offiziellen, die sich ein solches Großereignis sicher nicht entgehen lassen wollten. Was hier vor sich ging, war für die Menschen hier keineswegs alltäglich. Und genau deshalb waren sie nun auf die Unterstützung des FBIs angewiesen.
„Sheriff Hawthorne?“, rief Shelley. Sie schützte dabei mit der einen Hand ihre Augen vor der Sonne und winkte mit der anderen einem braun-beige gekleideten Mann hinter einem polizeilichen Absperrband zu. Er winkte zurück und machte sich in ihre Richtung auf. Das weiße Haar des etwa eins achtzig großen Mannes leuchtete im Glanz der Sonne – fast so, als schwebte ein Heiligenschein über seinem Kopf.
„Sie müssen die Mädels vom FBI sein“, sagte er mit Blick auf ihre Windjacken und schwarzen Anzüge mit FBI-Aufdruck. „Die Leiche ist schon weg. Mussten wir gestern Abend wegbringen, wegen des Wetters. Aber den Tatort könnt ihr euch ansehen, da ist noch alles so, wie wir es vorgefunden haben.“
„Ich bin Agent Shelley Rose“, sagte Shelley und zeigte ihm, ganz nach Vorschrift, kurz ihre Dienstmarke. „Dann führen Sie uns doch bitte dorthin.”
„Agent Zoe Prime“, fügte Zoe hinzu und ahmte Shelleys Bewegungen nach, bevor sie sich drehte, um den beiden zu folgen. Diesen Sheriff hatte sie immerhin noch nie zuvor getroffen. Hoffentlich ein gutes Omen.
Das grüne Gras zu beiden Seiten des Wanderwegs glitzerte hell im Morgenlicht, frisch und mit einem Hauch von Morgentau bedeckt. Als würden sie durch eine Postkarte spazieren, dachte Zoe, als sie dem ausgetretenen Weg folgten. Er wurde offensichtlich viel benutzt. Zoes Aufmerksamkeit fiel auf das Gras, von dem der Weg umgeben war – an welchen Stellen es dünner wurde und wie der breite Eingang zum Parkplatz immer schmaler wurde, bis er schließlich gerade für eine Person reichte, ganz gleich einem Fluss, der vom Meer wegführt.
„Sie wurde gestern Abend gefunden, richtig?“, fragte Shelley, nur, um sich noch einmal zu vergewissern.
„Am späten Nachmittag“, bestätigte der Sheriff. „Ein Wanderer hat uns alarmiert, der noch die letzten Züge des schönen Wetters genießen wollte. Er wollte zu einem der höheren Hügel, um von dort den Sonnenuntergang über der Stadt zu genießen. Leider ist er nicht weit gekommen, sondern schon recht bald auf Miss Troyes Leiche gestoßen. Sie lag einfach auf dem Wanderweg – wie Sie gleich sehen werden.“
Seine unheilverkündenden Worte standen in starkem Kontrast zu der malerischen Umgebung, in der sie sich befanden. Zoe sah sich auf dem Weg zum Tatort genau um. Nicht weit vor ihnen gingen drei Männer – sie trugen die gleiche beige-braune Uniform wie auch der Sheriff – ein Stück des Pfads auf und ab; höchstwahrscheinlich bewachten sie den Tatort. Aber um sie herum, links und rechts abseits des Wanderweges, gab es nicht viel Bemerkenswertes zu sehen – abgesehen von der sie umgebenden Hügellandschaft mit seinen Büschen, Sträuchern und einigen in der Ferne emporragenden weißen Windrädern. Sie zählte auf die Schnelle zweiundvierzig, aber es war natürlich nicht auszuschließen, dass da noch mehr waren, die man von hier, vom grellen Sonnenlicht geblendet, nicht erkennen konnte.
Ihr fiel besonders auf, wie offen und ungeschützt dieser Ort war. Es gab hier keine Berge oder Wälder, in denen man sich verstecken, in denen man Schutz suchen konnte. Es war weit und breit nur die Hügellandschaft zu sehen, mit einigen vereinzelten Büschen hie und da. Nicht gerade der Ort, den sie sich aussuchen würde, wenn sie am helllichten Tage einen Mord begehen wollte.
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