„Zu dem Fall. Sie fliegen in vier Stunden“, sagte er und fuhr fort, als wäre das eine eher nebensächliche Information gewesen. „Ihre Tickets sind in der Akte. Schneller konnten wir Sie nicht nach Nebraska bringen.“
Das Wort traf Zoe wie ein Blitz. Nebraska. Ihr Geburtsstaat. Nicht, dass das etwas zu sagen hatte – Nebraska war groß. Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass sie in der Nähe ihres Geburtsortes sein würden.
„Innerhalb der letzten zwei Tage wurden zwei Frauen enthauptet aufgefunden. Klingt, als würde es sich um einen Serienmord handeln, deshalb brauchen wir Sie so schnell wie möglich vor Ort. Entschuldigen Sie den Nachtflug, aber Sie werden am frühen Morgen in der Ortschaft ankommen und können dann sofort nach Ihrer Ankunft mit der örtlichen Polizei in Kontakt treten“, fuhr Maitland fort. „Wir haben zwei verschiedene Tatorte in zwei verschiedenen Städten, also ist es möglich, dass der Täter auf Reisen ist. Sie müssen ihn so schnell wie möglich aufhalten. Denn wir wollen natürlich vermeiden, dass er den Staat verlässt und verschwindet.“
Shelley blätterte in der Akte und einige der Fotos darin ließen sie zusammenzucken. Zoe schaute ihr über die Schulter und konnte eine ganze Menge Blut sehen, bevor Shelley umblätterte.
„Wir werden unser Bestes versuchen, Sir“, sagte Shelley mit leicht abwesender Stimme, sie konzentrierte sich bereits auf die Akte.
„Versuchen Sie es nicht nur“, sagte Maitland düster. „Die Presse wird der Sache viel Aufmerksamkeit widmen. Lösen Sie den Fall. Bevor die ganze Sache zu einem Zirkus wird und ich unserem Chef erklären muss, warum wir eine schwindelerregende Anzahl von Leichen vor den Kameras der Welt haben.“
***
Zoe versuchte, ihr Handy zwischen ihrem Kopf und ihrer Schulter einzuklemmen, sodass sie beim Telefonieren ihre Klamotten zusammenlegen konnte. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie. „Es sieht so aus, als ob wir mindestens ein paar Tage unterwegs sind.“
„Ich wusste schon bei unserem ersten Date, worauf ich mich einlasse“, sagte Johns Stimme aus dem Hörer. Er klang entspannt und amüsiert. „Es ist in Ordnung. Rette du die Welt. Ich bin hier, wenn du zurückkommst.“
Zoe kaute abwesend auf ihrer Lippe herum, legte ihre letzten Sachen zusammen und ging schnell ins Badezimmer, um ihre Kulturtasche zu holen. Wegen der Fliesen im Bad klang ihre Stimme nun hallend. „Ich hasse es, dass ich unsere Dates immer wieder abbrechen muss“, sagte sie. „Heute Abend hat Spaß gemacht.“
„Das hat es“, sagte John, dann fügte er mit noch etwas sanfterer Stimme hinzu: „Ich hatte mich darauf gefreut, dich nach Hause zu fahren. Dieses Kleid, was du anhattest – das hat mir sehr gefallen.“
Zoe warf einen Blick auf den roten Stoff, der jetzt auf ihrem Bett lag, und ein kleiner Schauer überkam sie, als sie seine Worte hörte. Sie warf die Kosmetikartikel in ihren Koffer – und alles, was sonst noch fehlte, hinterher. „Vielleicht ziehe ich es nochmal für dich an, wenn ich wieder da bin.“ Schuhe – sie öffnete die Tür ihres Schranks und holte ein Paar Ersatzschuhe heraus, nur für den Fall, dass die Schuhe, die sie gerade trug, zu unbequem wurden.
„Das wäre toll.“ Johns Tonfall änderte sich erneut, diesmal wurde er ernster. „Eigentlich fände ich es schön, wenn wir mal reden könnten, wenn du wieder zu Hause bist.“
Zoe zögerte. Reden. Was bedeutete das? Redeten sie nicht jetzt gerade?
War sie jetzt in der Situation, die sie nur aus Filmen kannte – das gefürchtete Gespräch – der Moment der Trennung?
Nein, sicher war sie nur paranoid. John war ein erwachsener Mann. Er scheute sich nicht, seine Gefühle anzusprechen und er schien bisher nicht unzufrieden gewesen zu sein.
Natürlich hatte er sich nicht gerade darüber gefreut, dass sie wieder irgendwo hin musste, jetzt, da die beiden sich immer näher kamen.
„Okay“, zwang Zoe sich zu sagen. Sie wollte nicht, dass sich das Schweigen noch länger hinzog. „Klar. Das sollten wir.“
„Dann ruf mich an, wenn du zurück bist“, sagte John. Er machte auch eine Pause. „Zoe?“
„Ja?“
Er machte erneut eine Pause, so würde er seine Worte sehr genau abwägen. „Ich wünsche dir einen guten Flug.“
Zoe starrte auf das Handy in ihrer Hand, das Display war nun dunkel, das Gespräch beendet. Für einen kurzen Moment dachte sie, es war absurd, dass er es für nötig hielt, sie dazu aufzufordern, ihn nach ihrer Rückkehr anzurufen. Warum hätte sie das denn nicht tun sollen? Warum hätte sie sich absichtlich in so eine schreckliche Situation bringen sollen?
Dann ermahnte sie sich gedanklich selbst: Sie hatte doch gar keine Ahnung, worüber er mit ihr reden wollte. Nur, weil sie dank ihrer Fähigkeiten und ihrer Art für alle anderen anders und seltsam erschien und sie bereits mit Ablehnung rechnete, hieß das nicht, dass er ihr auch eine Abfuhr erteilen würde. Sie dachte an Dr. Monk und an das, was sie sagen würde – wahrscheinlich etwas dazu, dass man die Gedanken anderer Menschen nicht lesen konnte – und versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen.
Ein klimperndes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie einen Wäschesack für schmutzige Kleidung herausholte, den sie in den Koffer packen wollte. Zoes Hände wanderten zu ihren Ohren und ihr wurde klar, dass sie in all der Eile und Verwirrung der Vorbereitung vergessen hatte, ihre Ohrringe abzunehmen.
Langsam ging sie zum Badezimmerspiegel. Es war das erste Mal seit dem Verlassen des Büros von SAIC Maitland, dass sie für einen kurzen Moment innehielt. Der Eyeliner auf ihren Augen war eine Erinnerung daran, wie die Nacht hätte verlaufen sollen. Mit Bedauern griff Zoe nach ihrer Gesichtsreinigung und einem Waschlappen. Die Nacht war vorbei, und es hatte keinen Sinn, zu versuchen, sich an einem Überbleibsel davon festzuklammern, das spätestens im Flugzeug ihr Gesicht verschmieren würde.
***
Zoe rieb sich die Augen und gähnte. Es begann allmählich die Dämmerung. Nicht, dass sie das sehen konnte, denn sie hatten die Blende am Fenster heruntergezogen und die Welt jenseits des Flugzeugs der Fantasie überlassen, um in der Dunkelheit noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Sie hatte sich reisetauglich anziehen, ihren Koffer packen, den Katzenfutter-Spender auffüllen und einige Termine umzuorganisieren müssen. Vier Stunden hatten gerade noch gereicht, dann auch noch Shelley am Hauptquartier abzuholen und rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Im Flugzeug hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie sich etwas ausruhen müssten, damit sie bei der Landung auch noch klar denken konnten.
„Okay“, sagte sie. „Also, nachdem wir gelandet sind holen wir einen bereits bezahlten Mietwagen ab?“
„Ja“, bestätigte Shelley und blätterte in den Unterlagen, die ihnen zur Verfügung gestellt worden waren. „Das Präsidium hat tatsächlich für eine ‚Priority-Abholung‘ bezahlt, sodass es nicht lange dauern sollte, bis wir uns auf den Weg machen können.“
„Und wohin dann?“
„Hier steht Broken Ridge“, sagte Shelley und ging bereits zur nächsten Seite über.
Zoes Herz klopfte in ihrer Brust. „Broken Ridge?“, antwortete sie und hoffte wider Erwarten, etwas Falsches gehört zu haben.
„Ja, das ist etwa eine Stunde Fahrt vom Flughafen entfernt“, sagte Shelley und warf einen schnellen Blick auf die Karte. „Warum?“, sagte sie.
Zoe schluckte. „Nur so“, sagte sie.
Das war nicht ganz die Wahrheit. Die Wahrheit war etwas, das sie nicht zugeben wollte – und zwar, dass die Stadt Broken Ridge in der Nähe des Ortes lag, in dem Zoe aufgewachsen war. So nah, dass sie den Ort kannte und bildlich vor Augen hatte. Sie wusste, dass es nicht weit davon entfernt einen Windenergiepark gab, der in Zoes Kindheit gebaut worden war.
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