„Tue ich das?“
Shelley schaute seitlich zu ihr, während sie ihre Hände mit Papiertüchern trocknete. „Das weißt du doch. Aber ich musste es trotzdem ansprechen. Ich bin stolz auf dich. Als wir uns kennengelernt haben, hätte ich nie gedacht, dass du zu so etwas in der Lage wärst.“
Zoe musste sich innerlich erneut eingestehen, dass Shelley recht hatte. „Ich hätte nie gedacht, dass ich es wollen, geschweige denn können würde.“
„Dann bin ich ja froh, dass wir dich davon überzeugen konnten“, sagte Shelley, ging von den Papiertüchern weg und stellte sich vor sie. „Du siehst wunderschön aus, Zoe. Dieser neue Look gefällt mir richtig gut.“
Zoe lächelte und spürte eine ungewohnte Röte auf ihren Wangen. „Es hat mich eine ganze Menge Übung gekostet“, sagte sie. Sie war noch nicht ganz so weit, zugeben zu können, dass sie auch Hilfe benötigt hatte. Sie sah sich Shelley an: sie war immer perfekt geschminkt und elegant – und auch heute war da keine Ausnahme. Ihr blondes Haar war etwas eleganter als sonst zusammengebunden, mit kompliziert aussehenden Windungen und Wicklungen und der hellrosane Lidschatten auf ihren Augenlidern passte gut zu dem Stoff ihres schlichten, aber figurbetonten Kleides. Sie sah aus, nun ja, wie sie immer aussah: für den Anlass perfekt gekleidet.
„Die Übung hat sich gelohnt“, sagte Shelley und griff nach ihrer Handtasche, die sie zuvor neben dem Waschbecken abgelegt hatte.
Zoe spürte, dass sie den richtigen Moment verpasste hatte, um das Kompliment zurückzugeben und geriet deshalb beinahe in Panik, beschloss dann aber, es trotzdem zu sagen. „Du siehst auch sehr schön aus.“
Shelley belohnte sie mit einem strahlenden Lächeln und betrachtete sich selbst im Spiegel, bevor sie sich wieder Zoe zuwandte. „Ich halte mich ganz gut für eine Mutter, was?“
Zoe wollte ihr gerade sagen, dass das noch untertrieben war – und hoffte dann, über John sprechen zu können und Shelley zu sagen, dass sie nach dem Essen noch länger bleiben wollte, um allein mit ihm zu reden –, aber fast zeitgleich damit war ein kurzes Klingeln im Raum zu hören, das sie unterbrach.
Zoe und Shelley tauschten einen Blick aus. Das Geräusch war aus ihrer beider Handtaschen gekommen – Zoe hatte sich eine Tasche von Dr. Applewhite geliehen, die zu ihrem Kleid passte. Es waren ihre Handys, die klingelten. Es gab nur zwei mögliche Erklärungen dafür, dass sie beide zur gleichen Zeit eine Nachricht erhalten hatte. Die erste war, dass es eine Art staatlicher oder landesweiter Notfall war und sie vom Präsidenten benachrichtigt wurden.
Die zweite war, dass sie zu einem Fall hinzugezogen werden sollten.
Zoe betete innerlich kurz dafür, dass es sich um einen Notfall handelte, der ihr Essen nicht unterbrechen würde. Aber natürlich glaubte sie gar nicht an Gott – und jeder Gott, der von einem Ungläubigen angebetet wurde, würde dieses Gebet wohl kaum erhören. Sie fischten ihre Telefone aus ihren Taschen und lasen beide die gleiche Nachricht: Rufen Sie so schnell wie möglich SAIC Maitland für eine Lagebesprechung zurück.
Shelley seufzte. „Dieser Abend war wohl etwas zu perfekt, um wahr zu sein.“
Zoe biss sich auf die Lippe und dachte an John, der da draußen auf sie wartete. Und sie fragte sich, wie viele Tage es wohl diesmal dauern würde, bis sie ihn wiedersehen würde.
Zoe zögerte vor dem großen, quadratischen Betonklotz, dem J. Edgar-Hoover-Building, für einen Moment. Andere fanden es hässlich, sahen in ihm ein Stück Architektur, das mehr an das Russland des Kalten Krieges erinnerte, denn an amerikanische ‚Greatness‘, also Größe. Zoe hingegen schätzte seine geraden Linien und dass es innen und außen sehr ähnlich aussah – trotzdem wünschte sie sich in diesem Moment auch, nicht hier sein zu müssen.
„Das wird ein Spaß“, murmelte Shelley und zog ihre dünne Jacke etwas enger über ihr Kleid.
Zoe, die nicht einmal eine Jacke mitgenommen hatte, war geneigt, dem zuzustimmen. Sie hätte jetzt gerade ihr Gespräch mit John haben sollen, über die Zukunft ihrer Beziehung. Und vielleicht hätten sie dann Entscheidungen getroffen, die sie noch sehr lange Zeit glücklich gemacht hätten. Stattdessen waren sie und Shelley kurz davor, in Abendgarderobe und Make-up durch ein ganzes Gebäude voller Kollegen zu gehen, was Zoes Vorstellung der Hölle schon recht nah kam.
Sie waren gerade erst durch die Türen hereingekommen und warteten noch auf den Aufzug, als bereits die erste Bemerkung gemacht wurde. Johnson, ein Agent, der ein echter Klugscheißer war, stolzierte den Korridor hinunter auf sie zu. „Haben ihr ein heißes Date, Ladies?“, fragte er und deutete mit einer Pistolengeste auf sie. „Schön zu sehen, dass ihr zwei endlich euren Trieben nachgebt.“
Shelley rollte mit den Augen. „Ich bin glücklich verheiratet, Johnson. Mit einem Mann.“
„Oh“, sagte Johnson und tat so, als wäre er geschockt. „So eine Homophobie hätte ich vom besten Frauenduo des FBI ja nicht erwartet.“
„Ich bin nicht homophob, ich bin nur …“ Shelley seufzte und schloss für einen Moment die Augen, bevor sie in einem ruhigeren Ton weitersprach. „Ich bin nicht lesbisch. Und Johnson? Tu mir einen Gefallen und leck mich.“
Zoe lächelte nur halb. Es war zwar nicht lustig, von ihren Kollegen verarscht zu werden, vor allem, da sie die Hälfte der Anspielungen und Untertöne nicht verstand, aber es war irgendwie lustig zu sehen, wie Shelley auch mal durch etwas aus der Fassung gebracht wurde. Und obwohl Zoe natürlich nicht wollte, dass Shelley sich schlecht fühlte, war es eine nette Erinnerung daran, dass sie beide menschlich waren.
Zurufe und Kommentare über alles an ihnen, von ihren Schuhen bis hin zu ihren Haaren, zogen sie auf dem ganzen Weg wie ein Kondensstreifen hinter einem Paar Düsenjets hinter sich her, bis sie es endlich zur Tür von SAIC Maitlands Büro geschafft hatten. Shelley nahm sich einen Moment Zeit, um sich gerade hinzustellen und eine lose Haarsträhne von ihrer Schulter zu streichen. Dann klopfte sie an.
„Herein.“
Die dröhnende Stimme des Mannes trug ebenso sehr zu seiner einschüchternden Präsenz bei wie seine Größe. Leo Maitland war mit seinen eins neunzig nicht einfach nur groß, sondern er war auch breit und hatte einen Bizeps von achtunddreißig Zentimeter Umfang, nicht gerade typisch für sein Alter. Seine aufrechte, militärische Haltung war immer noch vorhanden, obwohl er nicht mehr beim Militär war. Das ergraute Haar an seinen Schläfen war der einzige Hinweis darauf, dass er Mitte vierzig war.
„Sir“, sagten Zoe und Shelley fast einstimmig. Er war derjenige, der sie hierher gerufen hatte. Sie wussten, dass es nicht nötig war, das Gespräch mit unnötigem Smalltalk zu beginnen. Der Special Agent, der die Zweigstelle des FBIs in Washington, D.C. leitete, war ein vielbeschäftigter Mann, seine Zeit war kostbar.
SAIC Maitland überflog noch für einen Moment einige Papiere und runzelte konzentriert die Stirn, bevor er sie mit Schwung unterschrieb und beiseitelegte. „Agents Prime und Rose“, sagte er und kramte in einer übervollen Ablage auf seinem Schreibtisch herum, um eine Akte herauszuholen. „Ich glaube, dass Ihnen dieser Fall gefallen wird.“
Zoe runzelte die Stirn. Ein schöner Mordfall? Das schien unwahrscheinlich, es sei denn, der Mörder erstickte seine Opfer in Zuckerwatte und für die Lösung des Falls waren ausgiebige Geschmacksproben nötig. „Sir?“, fragte sie zweifelnd.
„Das war sarkastisch gemeint, Agent Prime“, sagte er ohne zu lächeln. Er hielt die Akte mit ausgestrecktem Arm von sich weg. „Nimmt mir das einer von Ihnen jetzt ab, oder sind Sie beide gelähmt?“
Shelley sprang nach vorn und nahm ihm die Akte aus der Hand. „Entschuldigung, Sir.“
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