Der Mann blinzelte kurz und sah zu seinem Chef, der seine Zustimmung signalisierte. Er tat wie ihm geheißen und versuchte, sich zu verstecken. Obwohl er Kleidung in natürlichen Farbtönen trug, war er im saftigen Grün des Gestrüpps deutlich zu erkennen. Die Sträucher waren nicht besonders hoch gewachsen – und dank der großen Lücken zwischen den einzelnen Ästen versperrten sie die Sicht nicht besonders gut.
Shelley ging um die Absperrung herum zur anderen Seite des Weges und sah von dort wieder in seine Richtung. „Ich kann ihn auch von hier noch sehen“, bestätigte sie.
„Mach dich etwas kleiner“, rief Zoe ihr zu. „Du bist zweieinhalb Zentimeter zu groß.“
Shelley ging für einen kurzen Moment in die Knie, wodurch sie sich mindestens fünf Zentimeter kleiner machte. „Macht keinen Unterschied“, sagte sie. „Ich kann sowohl seine Füße als auch seine Schultern sehen.“
„Ich danke Ihnen. Sie können wieder rauskommen“, sagte Zoe, sehr zur Erleichterung des Mannes, der sofort damit begann, sich den Dreck von der Kleidung zu klopfen.
„Also ist er gelaufen“, sagte Shelley und kam wieder zu Zoe zurück. „Sie ist nicht weggelaufen, also hat sie ihn wahrscheinlich gesehen und nicht für gefährlich gehalten.“
„Dann kann er keine Machete getragen haben“, merkte Zoe an. „Zumindest nicht offen.“
„Und wenn er die Opfer kannte?“, fragte Shelley, den Blick auf die nicht weit entfernte Stadt gerichtet. „Die Orte sind nicht weit voneinander entfernt. Man könnte beispielsweise problemlos in dem einen Ort wohnen und in dem anderen arbeiten. Es ist also durchaus plausibel, dass der Täter zu beiden Opfern eine persönliche Verbindung hatte.“
„Die meisten Morde, bei denen eine persönlichen Verbindung zwischen Täter und Opfer besteht, sind emotional aufgeladene Affekthandlungen“, sagte Zoe und bezog sich dabei auf die Daten aus verschiedenen Fachbüchern zu diesem Thema. Diese Informationen hatte sie zwar verinnerlicht, aber es gab da etwas, das ihr auch die besten Lehrbücher nicht verständlich machen konnten: die sogenannte ‚Atmosphäre‘, die an einem Tatort herrschte. Aber bei diesem Fall wurde ihr allmählich klar, was damit gemeint sein musste. Einen Mord wie diesen musste man im Voraus planen und es war zu erkennen, dass der Täter nur genauso oft zugeschlagen hatte, wie es zum Abtrennen des Kopfes nötig gewesen war – er war also nicht in Rage geraten, sondern hatte den Mord in aller Ruhe begangen. „Hier wurde emotionslos und berechnend gehandelt.“
„Es könnte trotzdem eine persönliche Verbindung geben. Vielleicht hat ihn ja jemand langsam, aber sicher in den Wahnsinn getrieben. Vielleicht haben wir es mit einem Psychopathen zu tun.“
Das Wort ‚Psychopath‘ ließ Zoe immer noch innerlich zusammenzucken. Zu oft war es ihr selbst an den Kopf geworfen worden. Von ihrer eigenen Mutter, von Klassenkameraden, von all denen, die dachten, sie würde in bestimmten sozialen Situationen nicht angemessen, nicht sensibel genug reagieren. Ihr war schon immer klar gewesen, dass sie anders war, als die meisten ihrer Mitmenschen. Aber es hatte sehr lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass sie deswegen noch lange kein schlechter Mensch war.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, fasste sie zusammen und unterdrückte dabei ihre eigene emotionale Reaktion. „Entweder ist er zunächst ganz unschuldig an ihr vorbeigelaufen, nur um sich dann umzudrehen und sie mit einer vorher versteckten Klinge anzugreifen – oder er hat zunächst ihr Vertrauen gewonnen. Entweder, weil sie sich bereits vorher kannten, oder irgendwie anders.“
„Dann müssen wir erstmal herausfinden, ob Lorna Troye und Michelle Young irgendwelche gemeinsamen Bekannten hatten“, sagte Shelley. Trotz ihrer dunklen Augenringe, die sie dem anstrengenden Nachtflug zu verdanken hatte, wirkte sie jetzt aufmerksam und voll konzentriert. Fast schon gespannt darauf, was sich aus dieser neuen Spur ergeben würde. „Und, hast du Lust, dir mit mir die Leiche anzusehen?“
Zoe setzte ihr zuliebe ein gezwungenes Lächeln auf. „Ich dachte schon, du fragst mich nie.“
Das Labor des Gerichtsmediziners glich dem eines jeden anderen Gerichtsmediziners einer amerikanischen Kleinstadt, fand Zoe. Ein ungemütlicher Raum mit Metallbänken für die Leichen – nur zwei davon, denn normalerweise war hier nicht viel los. An einer Wand reihten sich neun vollkommen unschuldig aussehende Schubladengriffe hintereinander auf – und was sich dahinter verbarg, würden die meisten Menschen wohl als unsägliches Gräuel beschreiben. Zoe und Shelley hingegen machten diese Dinge schon lange nichts mehr aus, für sie war es ein Tag wie jeder andere.
„Das hier ist sie.“ Der Gerichtsmediziner, ein dicker Mann, dessen Gesicht dank seiner Brille dem einer Eule glich, zog mit einer übertrieben anmutenden, ruckartigen Bewegung eine der Schubladen heraus. Für einen kurzen Moment befürchtete Zoe, sie müsse gleich eine herunterpurzelnde Leiche mit den Armen auffangen, aber zum Glück schaukelte der Körper der Frau auf der Leichenmulde nur leicht hin und her.
Die Leiche wurde von einem weißen Laken abgedeckt – und an der Stelle, an der normalerweise der Kopf gewesen wäre, sackte das Laken einfach in sich zusammen. Zoe zog das Laken zurück, wohlwissend, dass Shelley inzwischen wahrscheinlich etwas übel war.
Es war ein grauenhafter Anblick. Auf dem nackten Frauenkörper zeichneten sich keinerlei Kampfspuren ab, wenn man davon absah, dass ihr Hals nun einem unsauber abgehackten Baumstumpf aus Fleisch und Blut glich. Unter dem rohen, rötlichen Fleisch waren die sauber, aber in mehreren, unterschiedlichen Einschnittwinkeln durchtrennten Knochen der Wirbelsäule zu erkennen. Die verschiedenen Einschnittwinkel deuteten auf mehrere Schnitte hin.
„Was hältst du davon?“, fragte Shelley mit leiser Stimme, die von dem Respekt vor der Toten zeugte, obwohl diese sie auch dann nicht hätten hören können, wenn sie noch am Leben gewesen wäre – schließlich hatte sie keine Ohren mehr.
„Mehrere Einschläge auf den Hals“, sagte der Gerichtsmediziner in trockenem Tonfall, schob dabei mit einem seiner dicken Finger seine Brille die Nase hoch und zeichnete mit der anderen Hand Schnittbewegungen in die Luft. „Wahrscheinlich eine leichte Klinge. Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber ich würde auf eine Machete tippen. Davon würde man zumindest normalerweise ausgehen.“
„Normalerweise?“, fragte Zoe.
Der Gerichtsmediziner zuckte peinlich berührt mit den Schultern. „Na ja, ich habe so etwas zwar selbst noch nie gesehen“, sagte er. „Aber ich kenne die Statistiken. Eine Machete ist wahrscheinlicher als etwa ein Samuraischwert. Wobei das wohl die zweitwahrscheinlichste Variante ist. Es gibt Leute, die solche Schwerter aus Japan mitbringen oder im Internet bestellen.“
Zoe widerstand dem Drang, ihn darauf hinzuweisen, dass solche Schwerter eigentlich Katanas genannt wurden, und konzentrierte sich stattdessen auf die Leiche. Sie zählte die am Hals der Leiche sichtbaren Einschnittwinkel. Zwei mehr als am Tatort zu sehen gewesen waren, aber die ersten zwei waren so flach, dass die Tatwaffe dabei vermutlich nicht in den Boden eingeschlagen war. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viel Kraft bei den vier Schlägen aufgewendet wurde?“
„Auf jeden Fall nicht genug Kraft, um den Kopf mit einem Schlag abzutrennen“, sagte der Gerichtsmediziner. „Sie können die gegenläufigen Flächen hier und hier sehen: Jeder Einschlag erfolgte in einem leicht abweichenden Winkel, deshalb sieht man hier diese rauen Kanten und Unebenheiten … vier Einschläge, ja, genau wie sie gesagt haben.“
„Würden Sie den Täter als nicht besonders stark einschätzen?“, fragte Shelley, als sie sich endlich ein wenig von dem scheußlichen Anblick erholt hatte.
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