Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. „Lässt sich ohne Zeitmaschine schwer sagen. Ich kann nur die Einschlagskraft beurteilen. Aber ob das jetzt eine ältere Frau war, die unter Adrenalin stand und all ihre Kraft mobilisierte, oder ob hier Arnold Schwarzenegger am Werk war, der einfach einen schlechten Tag hatte? Keine Ahnung.“
„Können Sie nicht einmal sagen, ob wir nach einem Mann oder nach einer Frau suchen?“
„Nein, das kann ich auch nicht besser beurteilen als Sie“, erwiderte der Gerichtsmediziner. „Mit Blick auf Motiv, Gelegenheit und so weiter sind Ihre Kollegen vermutlich eher im Stande, diese Frage zu beantworten.“
Das war zwar keine besonders hilfreiche Antwort, aber sie war immerhin ehrlich. „Ich glaube wir haben genug gesehen“, sagte Zoe und machte einen Schritt zurück, damit der Mann genug Platz hatte, um den Leichenschrank wieder zu schließen.
„Danke Ihnen“, sagte Shelley zu dem Mann und folgte dann Zoe, die sich schon auf dem Weg in Richtung Ausgang befand.
Draußen war die Sonne inzwischen vollständig aufgegangen und das Sonnenlicht war so grell, dass Zoe sofort ihre Sonnenbrille aus ihrer Tasche kramte. Zudem war die Hitze geradezu erdrückend. Zoe verweilte für einen kurzen Moment im Schatten des Leichenschauhauses und blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung ihres Autos, um genau zu berechnen, wie heiß es darin jetzt wohl sein mochte. Keine schöne Vorstellung.
„Wo fahren wir als Nächstes hin?“, fragte Shelley.
„Zu Lorna Troyes Familie“, erwiderte Zoe. „Vielleicht haben die ja eine Spur für uns. Vielleicht etwas, das sie mit Michelle Young in Verbindung bringt.“
„Laut Akte hat sie nicht mehr viele Angehörige“, sagte Shelley. Sie konnte sich offenbar daran erinnern. Sie musste diesen Teil der Akte schon gelesen haben. Zoe hatte sofort ein schlechtes Gewissen, dass sie selbst das noch nicht getan hatte. „Die Eltern starben vor etwa zehn Jahren bei einem Autounfall. Sie hat nur noch eine Schwester.“
Zoe nickte. „Okay.“ Sie dachte einen Moment lang nach. Beide blieben auf der Stelle stehen; Shelley freute sich entweder genauso wenig auf die Hitze im Auto wie Zoe, oder sie versuchte einfach, Zoe etwas Raum zum Nachdenken zu geben. „Wir wissen noch nicht wirklich, wonach wir eigentlich suchen.“
„Es könnte ein Mann oder eine Frau sein, stark oder auch nicht, und wir kennen keinerlei Körpermerkmale“, seufzte Shelley. „Hoffentlich finden wir bald einen Zeugen. Hast du eine Idee, wo wir mit dem Täterprofil ansetzen sollten?“
Zoe schüttelte leicht den Kopf. „Das könnte man so oder so sehen. Die Vehemenz des Übergriffs lässt auf einen männlichen Täter schließen. Wie wir wissen entscheiden sich Frauen meist für weniger physische Methoden. Andererseits ist deutlich zu erkennen, dass Lorna Troye sich nicht unwohl fühlte, als sie angegriffen wurde. Möglicherweise hat sie dem Täter oder der Täterin sogar vertraut und sich in deren Nähe sicher gefühlt. Das könnte man als Hinweis auf eine weibliche Angreiferin werten.“
„Was ich an der ganzen Sache am auffälligsten finde, ist die Tatsache, dass die Tat im Freien – und nicht gerade gut versteckt – stattgefunden hat.“
„Das zeugt von großem Selbstbewusstsein“, sagte Zoe. „Oder von Wahnsinn. Auf jeden Fall von der Überzeugung, nicht erwischt zu werden. Vielleicht sind die Schläge nicht mit voller Kraft erfolgt, weil der Täter oder die Täterin nicht in Eile war. Als hätte er oder sie sich unantastbar gefühlt. Als wäre die Welt für den Moment des Angriffs stehengeblieben.“
„Mhm“, murmelte Shelley zustimmend und lehnte sich dabei an die kühle Steinwand des Gebäudes. „Irgendwie müssen wir das noch genauer eingrenzen. Uns ein besseres Bild davon machen, was hier tatsächlich vorgefallen ist.“
„Dann wollen wir mal hoffen, dass Lorna Troyes Schwester uns dabei helfen kann“, sagte Zoe und machte widerwillig einen Schritt in die gleißende Hitze und in Richtung ihres Autos.
***
Lorna Troyes Schwester lebte in einer kleinen Wohnung nahe am Stadtzentrum, direkt über einem Eisenwarenladen. Der Eingang der Wohnung, der einen schönen Blick auf einen Hammerständer bot, führte sie kurioserweise erst in einen blassgelben Flur und dann in ein Wohnzimmer, das in verschiedenen Schattierungen von Pink und fast ausschließlich in Samt gehalten war.
„Und ich kann Ihnen ganz sicher nichts bringen?“, fragte Daphne Troye, Lornas ältere Schwester, mindestens zum sechsten Mal.
„Ganz bestimmt nicht, Miss Troye, vielen Dank“, versicherte Shelley ihr mit einem Lächeln.
„Oh, es muss Mrs. Troye heißen“, erwiderte Daphne ebenfalls lächelnd und deutete auf ein dumpf glänzendes Armband an ihrem Handgelenk. „Meine Frau hat meinen Namen angenommen, als wir geheiratet haben.“
„Mrs. Troye“, korrigierte sich Shelley. „Das ist sicher eine schwierige Zeit für Sie. Wir wollten Sie nur kurz nach ein paar Dingen fragen, die uns vielleicht dabei helfen könnten, den Mörder Ihrer Schwester zu finden.“
Das ohnehin gezwungen wirkende Lächeln auf Daphnes Lippen verschwand nun vollends. „Ja”, sagte sie und lehnte sich in ihrem Samt-Sessel zurück. Scheinbar hatte sie nun akzeptiert, dass sie ihren Gästen nichts anbieten konnte. „Natürlich. Bitte, fragen Sie ruhig.“
„Was können Sie uns über gestern sagen?“, fragte Shelley. „Hatten Sie Kontakt zu Lorna?“
„Ein bisschen.“ Ihre Augen wanderten kurz zu einem verschlossenen Zimmer am anderen Ende des Flurs, den man durch die offene Tür des Wohnzimmers überblicken konnte, bevor sie wieder zu Shelley sah. „Lorna und Rhona – meine Frau – verstehen sich nicht gut. In letzter Zeit haben wir nicht oft miteinander gesprochen. Zumindest nicht persönlich. Aber ich habe ihr morgens manchmal eine SMS geschickt.“
„Wussten Sie, dass Lorna vorhatte, wandern zu gehen?“
„Ja.“ Daphne griff nach ihrer eigenen Tasse, goss sich eine milchige Flüssigkeit ein, die so stark verdünnt war, dass es sowohl Tee als auch Kaffee hätte sein können, und nahm einen winzigen Schluck. „Das hatte sie mir erzählt. Sie wollte eigentlich mit einer Freundin gehen, aber die hat in letzter Sekunde abgesagt.“
„Wissen Sie, wie diese Freundin heißt?“, fragte Zoe und schlug ihr Notizbuch auf.
„Ähm“, Daphne hielt kurz inne. Sie kniff sich in den Nasenrücken und schloss die Augen, während sie nachdachte. „Lassen Sie mich kurz … Cora! Sie heißt Cora.“
„Nachname?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Den weiß ich leider nicht.“
„Das macht nichts“, sagte Shelley. „Cora ist kein besonders häufiger Name. Wir werden schon rausfinden, wer das ist.“
„Wenn ich darf, würde ich Ihnen gern ein Foto zeigen“, sagte Zoe. Sie sah, wie Daphne die Augen aufriss und zu zittern begann und fügte sofort hinzu: „Nicht vom Tatort. Keine Sorge. Es ist das Foto einer Frau. Wir würden gerne wissen, ob Sie diese Frau kennen – und insbesondere, ob Sie Lorna jemals mit ihr zusammen gesehen haben.“
Sie nahm das gedruckte Foto von Michelle Young aus ihrem Notizbuch und legte es vor Daphne auf den Tisch, damit sie es gut sehen konnte.
„Ich … ich glaube nicht“, sagte Daphne nach einer ganzen Weile und schaute dann wieder zu Zoe auf. „Wer ist das denn?“
„Sie heißt Michelle Young“, sagte Zoe. „Kommt Ihnen der Name bekannt vor?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Halten Sie diese Frau für … die Täterin?“
Ihre Stimme klang zugleich ängstlich als auch hoffnungsvoll. Zu wissen, wer die Tat begangen hatte, wäre sicher eine Erleichterung für Daphne gewesen, keine Frage. Der erste Schritt zu einer Art Verständnis davon, warum man ihr die Schwester genommen hatte. Es tat Zoe leid, dass sie ihr dieses Gefühl nicht geben konnte.
Читать дальше