Ich zog den Reißverschluss auf und blickte hinaus in eine trübe Welt. Über Nacht hatte es sich merklich abgekühlt. Die feuchte Luft über dem See war zu dichtem Nebel kondensiert. Er hielt zwar die schwärmenden Blutsauger fern, brachte aber auch ein unerwartetes Problem mit sich. Wir waren praktisch blind. Wie soll-ten wir unser Zielobjekt jetzt auf dem Wasser sehen? Wer konnte sagen, ob Mokele m'Bembe nicht genau in diesem Moment Appetit auf ein paar Abenteurer verspürte? Mir fiel der Kontaktzaun mit der Selbstschussanlage wieder ein, aber würde der uns rechtzeitig warnen, geschweige denn ein Reptil von diesen Ausmaßen aufhalten? Fragen über Fragen, auf die mein müder Geist keine Antwort wusste.
Zuerst musste ich mal aufstehen. Also schlüpfte ich in meine halblangen Trekkinghosen, zog mir die Wandersandalen an und ging auf wackeligen Beinen zur Feuerstelle, in der Hoffnung, dass schon jemand einen starken Kaffee gebrüht hatte. Zu meiner großen Überraschung bemerkte ich, dass schon alle auf den Beinen waren. Sie scharten sich um ein Gerät, das wie eine Mischung aus einer Autobatterie und einem Samsonite-Koffer aussah.
»Ah, Mr. Astbury ist erwacht«, begrüßte mich ein überraschend gut gelaunter Maloney. »Endlich. Haben Sie in der letzten Nacht doch noch ein wenig Schlaf gefunden? Wir haben Sie extra in Ruhe gelassen, damit Sie sich den Aufregungen des heutigen Tages gewachsen fühlen. Kommen Sie her. Sehen Sie sich das mal an.«
Ich versorgte mich schnell mit Kaffee und einem Stück Brot und gesellte mich zu den anderen. Der Pygmäe war nirgendwo zu entdecken. Elieshi kniete am Boden und war gerade dabei, die vermeintliche Autobatterie mithilfe einiger Kabel an ein separates, keulenförmiges Kunststoffgehäuse zu stöpseln. Maloney legte seine Hand auf meine Schulter. »Treten Sie ruhig näher«, forderte er mich auf. »Eine faszinierende Apparatur«, sagte er und deutete auf die weiße Kunststoffkeule. »Das hier ist das Mikrofon. Es ist in der Lage, Infraschall, wie er zum Beispiel von Elefanten erzeugt wird, zu empfangen. Verbunden ist es mit einem Verstärker und einem Frequenzfilter, der die Töne dann an ein Notebook weiterleitet, wo man sie sichtbar machen kann.«
»Infraschall?«
»Ist Ihnen das kein Begriff, Professor?« Elieshi zwinkerte mir fröhlich zu. »Jetzt enttäuschen Sie mich aber. Ich habe gedacht, das sei Allgemeinwissen. Elefanten verständigen sich, genau wie andere Großsäuger, mittels Infraschall über große Entfernungen. Die Schallwellen liegen unterhalb der menschlichen Hörgrenze, weshalb man ihre Sprache auch erst 1984 entdeckt hat. Der erste Test dieser Geräte fand 1999 in Namibia statt. Seitdem ist das ELP, wie wir das Elephant Listening Project abkürzen, ein fester Bestandteil des Artenschutzpro-gramms.«
»Wie auch immer«, meldete sich Maloney wieder zu Wort. »Wenn dieses Gerät Infraschall empfangen kann, ist es für unsere Zwecke bestens geeignet. Erinnern Sie sich an die Berichte über die Laute, die Mokele m'Bembe angeblich ausstoßen würde?«
Ich nickte. »Sehr tiefe Tonfolgen, die weithin zu hören waren.«
»Genau. Mit großer Wahrscheinlichkeit repräsentieren sie nur einen kleinen Ausschnitt seines tatsächlichen Klangspektrums. Hätten wir das Gerät schon gestern zur
Verfügung gehabt, wären wir wahrscheinlich durch ein Feuerwerk von Lauten gewarnt worden. Aber was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte er. »Jedenfalls ist unsere Kollegin gerade damit beschäftigt, die Geräte startklar zu machen. Vielleicht können sie ja schon etwas aufzeichnen, bis wir wieder zurückkehren.«
»Sie sind also immer noch fest entschlossen, ins Grasland zu gehen?«
»Die Frage überrascht mich,« gab Maloney zurück. »Ich dachte, Sie könnten es gar nicht erwarten, dorthin zu kommen.«
»Stimmt schon«, gab ich zu. »Dann werde ich mich mal fertig anziehen.« Kaum hatte ich das gesagt, entdeckte ich eine Bewegung im Gebüsch. Egomo war wieder da. Er stand am Ufersaum und bedeutete uns, ihm zu folgen.
»Tun Sie das«, sagte Maloney. »Sie haben fünf Minuten. Und beginnen Sie mit den Stiefeln. Erst vorhin habe ich eine Gabunviper gesehen, gleich da vorn, hinter dem Elefantengras.«
*
Etwa eine Stunde später befanden wir uns mitten im tiefsten Dschungel. Egomo lief voraus, danach folgten ich und Sixpence, während Elieshi und Maloney das Schlusslicht bildeten. Die smaragdene Luft war erfüllt von den Geräuschen unzähliger Waldbewohner. Ihr Pfeifen, Zwitschern und Grunzen pulsierte, schwoll an und steigerte sich zu einem infernalischen Crescendo, ehe es verstummte und wieder von neuem begann. Fast hätte man meinen können, die Klänge selbst seien eigenständige Lebewesen.
Durch das dichte Dach der Baumkronen fiel hin und wieder ein gleißender Lichtstrahl, der das Dämmerlicht am Boden des Urwalds durchbrach und ein Blatt, eine Blüte oder eine grellbunte Schmarotzerpflanze streifte und überdeutlich hervorhob. Leider fehlte mir die Zeit für längere Betrachtungen, denn unser Führer hastete trotz seiner Verletzung mit einem atemberaubenden Tempo durch das Unterholz. Dabei bewegten sich seine Füße so schnell, dass sie vor meinen Augen zu verschwimmen begannen. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen, und mehr als einmal wurde er vom Dämmerlicht verschluckt. Hätten wir ihn wirklich verloren, es wäre katastrophal gewesen. Ich hatte zwar den Kompass meines Vaters dabei, ein Erbstück, das ich überall mit hin nahm, aber der hätte uns nur unzureichend helfen können. Der Wald sah hier überall gleich aus. Es gab keine erkennbaren Wege oder Pfade, keine Orientierungspunkte, nicht einmal die Sonne hätte uns hier unten helfen können. Glücklicherweise wartete Egomo immer wieder auf uns, auch wenn ihn unsere Langsamkeit sichtlich verärgerte. Dann stand er da, schüttelte den Kopf und murmelte ungehalten vor sich hin. Ich hingegen bewunderte, wie perfekt er in Farbe und Körperbau dem Urwald angepasst war. Trotz der Verletzungen waren seine Bewegungen geschmeidig. Seine Füße schienen jedes Hindernis schon von weitem zu erkennen und zu umgehen. Manchmal hielt er an und lauschte in die Dämmerung, während sein Körper in absoluter Regungslosigkeit verharrte. Dann glich er eher einem Stück Holz als einem Menschen.
»Dieser Dschungel ist die Pest«, hörte ich Sixpence neben mir schimpfen, als wir mal wieder eine Pause einlegten. »Alles hier ist Lug und Trug.«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie nicht die Boa Constrictor bemerkt, die Sie vorhin beinahe mit ihrem Kopf gestreift hätten?«
»Das war doch nur eine Liane.«
Sixpence schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, das ist genau, was ich meine. Nichts ist hier, wie es scheint. Betrachten Sie mal diesen Zweig hier.« Er deutete auf ein trockenes Ästchen, das sich inmitten eines grünen Busches befand und leicht zitterte. Während ich mich noch wunderte, was den kleinen Ast wohl in Schwingung versetzte, löste sich plötzlich ein Anhängsel, glitt durch die Luft und griff nach vorn. Als sich weitere Gliedmaßen in Bewegung setzten, begriff ich, dass es sich um ein perfekt getarntes Insekt handelte.
»Eine Stabheuschrecke«, murmelte ich.
»Wie ich gesagt habe: alles Lug und Trug.«
Ich starrte auf den schwankenden Zweig: »Aber das ist doch das beherrschende Prinzip in der Natur: Jeder gegen jeden, und der mit den raffiniertesten Tricks gewinnt.«
Sixpence schüttelte lachend den Kopf. »Das kann nur jemand sagen, der sein Leben in Bibliotheken verbracht hat.«
»Hab ich ja gar nicht«, erwiderte ich. »Als ich fünf war, kurz nach dem Tod meiner Mutter, hat mich mein Vater mit auf Reisen genommen. Er war ebenfalls Biologe. Wir verbrachten fast zwei Jahre in Tansania, am Fuß des Kilimandscharo.«
»Dann ist das gar nicht Ihr erster Aufenthalt in Afrika?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ist aber schon sehr lange her. Meine Mutter war kurz zuvor gestorben, und ich fühlte mich, als habe jemand mir mein Leben gestohlen. Aus heutiger Sicht betrachtet mag das naiv klingen, aber damals habe ich gelernt, so etwas wie Demut gegenüber der Schöpfung zu empfinden.«
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