Ein Pygmäe, schoss es mir durch den Kopf.
»Elieshi?«, flüsterte ich, doch sie bedeutete mir, mich ruhig zu verhalten. Also blieb ich sitzen und beobachtete, wie sie langsam und mit vorsichtigen Schritten auf den Eindringling zuging. Der Ureinwohner machte keinerlei Anstalten zu fliehen. Auch wirkte er nicht, als suche er Streit. Er stand einfach da und blickte zu uns herüber. Ich deutete das als Zeichen, dass er mit uns Kontakt aufnehmen wollte. Elieshi hatte sich ihm bis auf drei Meter genähert und fing an, ihn mit Gesten aufzufordern, näher zu treten. Als ob er geradezu auf die Einladung gewartet hätte, löste sich der Mann aus der Dunkelheit und betrat unser Lager. Er war wesentlich kleiner, als der erste Eindruck vermuten ließ. Bekleidet mit einem roten Lendenschurz, maß er höchstens einen Meter fünfzig. Es fiel mir schwer, sein Alter zu schätzen, denn seine Physiognomie und seine Mimik waren gänzlich anders als die von uns Europäern. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass er noch relativ jung war. Vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre. Schrecklich mager sah er aus. Zudem schien er bei einem Kampf oder einem Unfall verletzt worden zu sein. Er humpelte, und sein rechter Arm hing schlaff an seinem Körper herab. Er bot ein Bild des Jammers. »Sehen Sie sich das an«, murmelte ich, als ich die Schwere seiner Verletzungen erkannte. »Der Mann muss sofort verarztet werden. Helfen Sie mir, ihn ins Versorgungszelt zu bringen. Schnell!«
»Mal sehen, ob er uns an sich ranlässt«, sagte sie und begann in einer seltsam kehlig klingenden Sprache auf ihn einzureden. Die Worte schienen anzukommen. Der Mann fing an, auf seine Verletzungen zu deuten und nickte, als Elieshi ihn aufforderte, das Vorratszelt zu betreten. Ich eilte voraus und entzündete die Gaslaterne, die an der Dachverstrebung hing. Mittlerweile hatten auch Maloney und Sixpence mitbekommen, das etwas geschehen war, wie ich an dem Lichtkegel im Inneren ihrer Zelte unschwer erkennen konnte.
Nur wenige Minuten später hatte sich das gesamte Team um den dunkelhäutigen Mann versammelt, der uns mit großen Augen anstarrte.
»Was will er denn von uns?«, wandte ich mich an Elieshi.
»So wie ich das verstanden habe, will er uns warnen«, erwiderte sie. »Ich habe aber keine Ahnung, wovor.« Die Biologin kniete vor ihm und begann damit, seine Wunden zu reinigen und zu desinfizieren. »Meine Sprachkenntnisse sind seit dem letzten Besuch bei den Pygmäen etwas eingerostet. Er spricht einen seltsamen Dialekt, aber ich habe herausbekommen, dass er Egomo heißt und vom Stamm der Bajaka ist. Sie halten sich etwa vier Tagesmärsche von hier auf.«
Bewundernd beobachtete ich, mit welcher Gelassenheit der Pygmäe die schmerzhafte Prozedur über sieh ergehen ließ.
»Wie hat er sich diese Verletzungen zugezogen?«, wollte ich wissen, während ich Elieshi dabei zusah, wie sie seinen Schulterbereich abtastete. Egomo zuckte schmerzhaft zusammen.
»Sein Schlüsselbein ist gebrochen«, diagnostizierte sie. »Ich werde versuchen, den Arm ruhig zu stellen. Reichen Sie mir mal das Verbandstuch.« Ich griff in unseren Erste-Hilfe-Koffer und holte Pflaster, Mullbinden und ein Dreiecktuch heraus.
Nachdem Elieshi alle seine Verletzungen versorgt und den Arm am Körper fixiert hatte, hielt sie ihm etwas von dem kalten Eintopf und ein Stück Brot hin. Der Pygmäe schnupperte zuerst misstrauisch, doch nachdem er davon gekostet hatte, schaufelte er den Inhalt der Schale gierig in sich hinein, wobei er den angebotenen Löffel ignorierte und nur seine Finger benutzte. Der bandagierte Arm schien ihn dabei nicht im Mindesten zu beeinträchtigen, zumal Elieshi ihm die Schale hielt. Es hatte den Anschein, als habe er schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Als die Schale leer war, nickte er dankbar und ließ einen donnernden Rülpser hören. Elieshi füllte die Schale ein weiteres Mal und setzte dabei ihre Befragung fort. Diesmal aß Ego-mo mit sehr viel mehr Ruhe und nahm sich auch mehr Zeit für seine Antworten, wobei ich den Eindruck hatte, dass er mich die ganze Zeit beobachtete. Ich konnte förmlich spüren, wie seine großen braunen Augen auf mir ruhten.
»Um es kurz zu machen«, erläuterte Elieshi nach einer Weile, »ich habe nicht alles verstanden, was er mir erzählt hat. Aber es war deutlich herauszuhören, dass er schreckliche Angst hat. Er berichtet von einer unheimlichen Begegnung im Grasland. Wahrscheinlich meint er die unbewaldete Zone im Süden. Was ihn dort so er-schreckt hat, wollte er nicht sagen. Jedenfalls musste er fliehen, wobei er sich die Verletzungen zugezogen hat. Er sagte, dass er noch einmal zurückkehren will, weil er seine Waffe und seinen Proviant dort verloren hat, und wenn wir ihn begleiten, würde er uns das verwüstete Lager zeigen.«
»Ein verwüstetes Lager?« Ich wurde neugierig. Das war der erste konkrete Hinweis, dass hier doch etwas nicht mit rechten Dingen zuging. »Wo liegt es genau? Vielleicht handelt es sich um Emilys Lager. Frag ihn, ob er dort vielleicht eine Frau mit blonden Haaren gesehen hat.« Als er den Namen Emily hörte, änderte sich Ego-mos Gesichtsausdruck. Er schien zu wissen, wovon ich sprach. Doch als er antwortete, spürte ich sogleich, dass etwas Schreckliches geschehen war.
»Er sagt, eine blonde Frau habe er dort nicht gefunden«, übersetzte Elieshi. »Er sagt aber, es lägen viele Menschen dort. Alle tot. Dabei müssen Sie wissen, dass es in der Sprache der Pygmäen viele Begriffe für unser Wort >tot< gibt. Bei ihnen ist der Tod eine Art Bewusstseinsveränderung. Selbst die Luft und die Erde, ja sogar die Steine haben ein eigenes Leben. Er benutzte aber einen Ausdruck, der nur in sehr seltenen Fällen zum Einsatz kommt. Er bedeutet, dass etwas wirklich tot und seine Seele für immer verloren ist.«
»Ist er ganz sicher, dass Emily nicht dabei war? Hat er alle Körper genau untersucht? Ich dachte, er sei in Panik geflohen. Vielleicht waren einige von ihnen nur schwer verletzt ...«, ich stockte. Der Gedanke, dass Emi-ly jetzt irgendwo da draußen in der Nacht lag und auf
Hilfe wartete, war kaum zu ertragen. Elieshi legte beruhigend ihre Hand auf meinen Arm.
»Vielleicht hat er sich geirrt«, murmelte ich. »Möglicherweise könnten wir noch jemanden retten, wenn wir jetzt aufbrächen.«
Sixpence schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Wir müssen warten, bis es hell wird. Und außerdem: Sehen Sie sich unseren Führer an, der kann doch keine zwei Schritte mehr laufen. Nein, wenn wir etwas unternehmen, dann morgen früh.«
»Was ist mit dieser Warnung?«, fragte Maloney, der bisher ruhig und schweigsam dagestanden und zugehört hatte. »Was hat ihn angegriffen, und vor allem: Was hat seiner Meinung nach die Menschen getötet?«
Elieshi leitete die Frage an den dunkelhäutigen Jäger weiter. Die Antwort, die wir erhielten, brauchte nicht übersetzt zu werden. Es war ein einfacher, vertraut klingender Name, und wenn Elieshi noch Zweifel an unseren Absichten gehabt hatte, so waren diese Zweifel nun ausgeräumt. Ich sah, wie sie beim Klang dieses Namens in sich zusammensackte und uns mit einer Mischung aus Verwirrung und Trotz anstarrte.
*
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Schweigsam und nachdenklich saßen wir zu viert am nächtlichen Lagerfeuer, ließen eine Flasche Wein kreisen und starrten in die Flammen. Egomo hatte sich nach dem Verzehr einer dritten Portion Eintopf im Vorratszelt hinter den Alu-miniumkisten zum Schlafen auf den Boden gelegt. Ich bedauerte das, denn eigentlich hätte ich ihn gern noch gefragt, ob er Emily persönlich gekannt hatte. Aber seine Entscheidung war sicher vernünftig, besonders in Anbetracht seiner Verletzungen.
»Ich frage mich, woher er gekommen ist, was er erlebt hat«, sagte ich, denn ich fühlte, wie sehr mich das Schweigen belastete, »und natürlich, warum er uns warnen will.«
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