»Eine Einstellung, die ich voll und ganz teile«, sagte Sixpence. »Nehmen Sie nur Stewart und mich. Wir beide empfinden ähnlich, und das, obwohl ich in der Tradition meiner Ahnen erzogen wurde und Stewart erzprotestantisch aufgewachsen ist.«
Ich runzelte die Stirn. »Warum aber verspürt er dann das Bedürfnis, die herrlichen Geschöpfe dieser Erde umzubringen?«
»Das hat mit der anderen Hälfte seiner Erziehung zu tun. Als eines von sieben Kindern und unter der Herrschaft eines strengen, despotischen Vaters konnte er nicht anders, als eine innere Härte zu entwickeln. Er ist in dieser Hinsicht ganz einfach gepolt. Der Stärkere gewinnt - das ist sein Motto. Macht euch die Erde Untertan, heißt seine Philosophie. Die Jagd ist sein zweiter Glaube, und Sie tun gut daran, ihm nicht in die Quere zu kommen, wenn er seine Beute ins Visier nimmt.«
»Ach ja, die Erotik des Tötens. Davon hat er mir schon erzählt. Aber diese Philosophie passt so gar nicht zu Ihnen. Wieso hängen Sie mit drin?«
Sixpence betrachtete mich eindringlich. Mir schien, als prüfe er, ob ich seine Antwort verstehen würde. »Ich bin ihm durch eine Blutschuld verpflichtet«, erwiderte er zögernd. »Er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet, und ich werde so lange an seiner Seite sein, bis ich diese Schuld beglichen habe.«
»Haben die Narben auf seinen Armen etwas damit zu tun?«
Sixpence lächelte und schüttelte den Kopf. »David, Sie sind ein netter Kerl, aber manchmal sind Sie etwas zu neugierig. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Wenn Stewart nicht darüber reden will, ist das sein gutes Recht. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass es sich bei den Narben um die Seelen verstorbener Freunde handelt. Freunde, die er im Laufe seines Lebens verloren hat. Das muss Ihnen als Erklärung genügen. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Fragen Sie nicht weiter danach.«
In diesem Moment setzte sich Egomo wieder in Bewegung. Die Pause war beendet. Verwirrt stand ich auf und folgte dem Pygmäen weiter durch das undurchdringliche Grün.
Es dauerte nicht lange, da bemerkte ich, dass der Wald sich lichtete. Das Blätterdach bekam immer mehr Lücken, durch die das Sonnenlicht ungetrübt zu Boden fiel. Nach einigen hundert Metern hatten wir die Waldgrenze erreicht.
»Da wären wir«, schnaufte Sixpence. »Das also ist das
Grasland. Von hier aus betrachtet ist es noch viel eindrucksvoller als aus der Luft. Sieht aus wie abgeschnitten, als hätte man einen riesigen Teil des Waldes gerodet.«
Elieshi schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ein natürliches Phänomen. Es hat hier nicht immer Urwald gegeben.«
»Im Ernst?«
»Ist noch gar nicht so lange her. Vielleicht zwei- bis dreitausend Jahre, da sah das Land genauso aus wie das hier.« Sie deutete auf die Ebene. »Das trockene, kühle Klima schuf ein Grasland, aus dem nur vereinzelt Bauminseln ragten. Zu dieser Zeit lebten hier noch Elefanten, Nashörner und Giraffen. Dann wurde das Klima feuchter und wärmer. Der Urwald begann sich auszubreiten und begrub das Gras unter sich. Es gibt Theorien, wonach einige Tiere vom Wald regelrecht eingeschlossen wurden und nicht mehr entkamen. Sie mussten sich an ein Leben im Zwielicht gewöhnen. Zum Beispiel das Okapi.«
Maloney schob seinen Hut in den Nacken. »Ich habe mich schon immer gefragt, was so ein Steppenbewohner im dichtesten Dschungel verloren hat. Klingt einleuchtend. Aber wir haben jetzt wirklich anderes zu tun, als uns über klimatische Veränderungen zu unterhalten. Seien Sie so gut und fragen Sie Egomo, wie weit es noch ist.«
Die Antwort des Pygmäen fiel kurz und knapp aus.
»Es ist nicht mehr weit«, übersetzte Elieshi. »Er sagt, man kann es schon riechen.«
Wir hoben unsere Nasen prüfend in die Luft - und tatsächlich, da war etwas. »Verbranntes Fleisch«, sagte Maloney. »Nichts riecht vergleichbar. Beeilt euch!«
E ine Viertelstunde später hatten wir das Lager erreicht. Es sah ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Mir kamen Zweifel, ob es eine gute Idee war, hierher zu kommen. Keine noch so detaillierte Schilderung hätte ausgereicht, um das Grauen zu beschreiben, das über diesem Ort lag. Ich presste mein Taschentuch vor den Mund, als ich mit zögernden Schritten durch das verwüstete Lager ging. Wir sahen mehrere Leichen, die Körper grässlich entstellt. Verrenkte Gestalten, herausgerissene Eingeweide und abgetrennte Gliedmaßen machten es schwer, die Zahl der Opfer zu erfassen, ich glaubte sechs Leichname zu zählen, es mochten aber auch ein oder zwei mehr sein. Unzählige Gebrauchsgegenstände lagen herum, zerbeult, zerrissen, zerfetzt, darunter fand sich vereinzelt noch Glut, die an dem, was noch nicht zerstört war, nagte. Ein umgestürzter Toyota Landcruiser verhüllte gnädig den grauenhaften Anblick, der sich dahinter bot. Zerfetzte Zelte, aus denen die Stangen wie Totenfinger ragten, lagen neben verbeulten Proviantkisten, deren Inhalt achtlos über den Boden verstreut war. Stühle, Töpfe, Konserven und Waffen lagen, bedeckt von einer Schicht aus Asche und Dreck, auf dem Boden.
Viel schlimmer aber waren die verbrannten Leichen, deren aufgedunsene Körper schon einen starken Verwesungsgestank verströmten. An einigen von ihnen hatten sich bereits Raubtiere zu schaffen gemacht.
Am Rande des Lagers fand ich einen Leichnam, der nur noch mit viel Fantasie als menschlich bezeichnet werden konnte. Das Gesicht des Mannes, einschließlich seiner Augen, war fortgerissen worden, so dass mich nur sein rot glänzender Totenschädel angrinste. Das war zu viel. Mein Magen rebellierte, und ich rannte einige Schritte ins Gras hinein, wo ich mich übergab. Ich wollte nicht, dass die anderen mich sahen.
»Mein Gott«, stammelte ich, nachdem sich mein Magen vollständig entleert hatte. Ich wischte mir die letzten Essensreste aus dem Gesicht. Meine Beine fühlten sich an, als seien sie aus Butter.
»Gott hat damit nichts zu tun«, sagte Maloney, der unbemerkt hinter mich getreten war. »Er war nicht hier, als das geschehen ist. Niemand war hier, der diesen armen Seelen hätte helfen können. Sie waren ganz allein.« Er spuckte auf den Boden. »Fühlen Sie sich wieder einigermaßen?«
Ich richtete mich auf. »Geht so. Wenn nur dieser Gestank nicht wäre.«
»Hier, nehmen Sie das«, sagte er und riss eine stachelig aussehende Pflanze ab. Er zerrieb sie zwischen seinen Fingern. »Wickeln Sie das in Ihr Taschentuch. Es sollte helfen, den Geruch zu überdecken.«
Tatsächlich, der frische Geruch von Minze stieg in meine Nase und half, meinen Magen wieder zu beruhigen.
»Besser?«
Ich nickte.
»Gut, dann kommen Sie. Vielleicht können wir herausfinden, was hier geschehen ist.« Er zog seine Digitalkamera hervor und begann, die Einzelheiten der Verwüstung zu dokumentieren.
Sixpence war ebenso mitgenommen wie ich. »Das ist Mokeles Werk«, murmelte er. »Kein anderes Wesen hätte einen Trupp schwer bewaffneter Soldaten derart zerlegen können. Keine Leoparden, keine Flusspferde, nicht mal wild gewordene Elefanten wären dazu in der Lage gewesen.«
Das Wort zerlegen gefiel mir in diesem Zusammenhang überhaupt nicht, und ich spürte, wie mein Magen sich aufs Neue verkrampfte. Aber ich musste ihm Recht geben. Es waren tatsächlich Soldaten. Wahrscheinlich die Gruppe, die Emilys Verschwinden aufklären sollte.
»Kongolesische Regierungstruppen«, stellte Elieshi fest, nachdem sie die Uniform eines der Opfer untersucht hatte. »Das hier drüben scheint der Anführer gewesen zu sein.«
»Das Unglück muss sich ereignet haben, kurz ehe Egomo zum ersten Mal hier eingetroffen ist«, sagte Ma-loney. »Vielleicht während des schrecklichen Gewitters, wenn man seinem Bericht Glauben schenken darf.«
»So langsam fange ich an, Stewart Recht zu geben«, murmelte Sixpence. »Wir täten der Welt einen Gefallen, wenn wir das Biest erledigen.«
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