Ich muß hier raus, dachte Masao. Aber wie? In wenigen Minuten werden sie alle Ausgänge der Studios bewachen. Sie hatten ihn eingekesselt. Sie würden ihn schnappen, sobald er zu verschwinden versuchte. Er durfte es nicht zulassen! Er hatte doch eine Verabredung mit Kunio Hidaka.
Alle Ausgänge der Universal-Studios wurden scharf bewacht. Privatdetektive, jeder mit Masaos Foto bewaffnet, überprüften die Gesichter aller Besucher, die das Gelände verließen. Es war Mittagszeit, und viele Schauspieler schlenderten über die Straße zu den kleinen Restaurants im Umkreis der Universal-Studios. Der Detektiv, der Masao als erster entdeckt hatte, staunte über die Vielfalt der Kostüme. Er sah einen indischen Prinzen in prächtiger Robe durch die Pforte wandeln, und hinter ihm einen nubischen Sklaven; es kamen ein Riese und ein Lilliputaner; ein biblischer Patriarch und ein Clown mit bemaltem Gesicht. Der Detektiv achtete nicht auf den Clown, der durchs Tor hinausspazierte. Er war zu eifrig damit beschäftigt, nach Masao Ausschau zu halten.
In einer öffentlichen Toilette zog Masao das Clown-Kostüm aus und wusch sich die Schminke vom Gesicht. Er wußte jetzt, daß Teruos Männer überall waren und nach ihm fahndeten. Er mußte ein neues Hotel finden und durfte sich bis zum nächsten Morgen nicht aus dem Zimmer rühren – bis er Kunio Hidaka anrufen konnte. Sie würden ihn wahrscheinlich in der Umgebung von Hollywood suchen, darum nahm Masao einen Bus nach Glendale und fand dort in einem kleinen Hotel Zuflucht.
Er konnte den nächsten Morgen kaum erwarten.
Teruo Sato regte sich nicht besonders darüber auf, daß Masao seinen Männern schon wieder entwischt war. Beim Schachspiel kam es nicht auf Schach an, sondern auf Schachmatt .
Und an diesem Tag würde es Schachmatt heißen. Sein Neffe war schlau gewesen, aber nicht schlau genug. Er verließ sich darauf, daß Kunio Hidaka ihn retten würde, weil er sonst niemanden hatte, dem er sich anvertrauen konnte. Aber Kunio Hidaka war immerhin nur ein Angestellter, und er würde sich an die Befehle seines Arbeitgebers halten – und der hieß Teruo Sato.
Teruo wollte Hidaka als Köder benutzen, um Masao in die Falle zu locken.
Als Teruo in Los Angeles eintraf, hatte er erfahren, daß Hidaka verreist war.
»Holen Sie ihn mir ans Telefon«, hatte Teruo der Sekretärin Hidakas befohlen.
»Ja, Mr. Sato.«
Teruo wartete in Hidakas Privatbüro und rauchte eine der Havanna-Zigarren aus dem Frischhalte-Kästchen auf dem Schreibtisch.
Die Sekretärin sagte: »Mr. Hidaka ist am Apparat.«
Teruo nahm den Hörer auf.
»Hidaka?«
»Guten Morgen, Mr. Sato. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie in Kalifornien sind, sonst hätte ich Sie gerne persönlich begrüßt. Ich …«
»Wo sind Sie jetzt?«
»In Arizona, ich schau mich nach einem Gelände für eine neue Fabrik um. Es ist ein …«
»Wie schnell können Sie nach Los Angeles zurückkehren?«
»Ich hatte vorgehabt, am Freitag – also morgen – wieder da zu sein, aber meine Geschäfte hier sind noch nicht abgeschlossen. Ich komme wahrscheinlich am Montag zurück.«
»Nein, Sie müssen morgen hier sein.«
»Ja, Mr. Sato.«
»Ich schicke Ihnen einen Firmen-Jet.«
»Vielen Dank.« Es trat eine Pause ein, dann sagte Kunio Hidaka: »Es hat mir sehr leid getan, der Tod von Mr. Matsumoto.«
»Ja«, erwiderte Teruo. »Es war eine traurige Nachricht für uns alle. Er war ein großer Mann.«
»Ja, das war er. Und ein guter Freund. Ich werde ihn vermissen. Ist Masao bei Ihnen?«
»Wird er sein«, versprach Teruo. »Wir sehen uns morgen.«
Teruo legte den Hörer auf und lehnte sich im Sessel zurück. Er war mit sich zufrieden.
Schachmatt.
Kunio Hidaka war ein nachdenklicher Mann. Es passierten Dinge, die ihn verwirrten. Er hatte Yoneo Matsumoto und seine Frau geliebt, und er betrauerte ihren Tod. Masao war beinahe ein Sohn für ihn, und doch hatte er beunruhigende Nachrichten über den Jungen gehört. Irgend etwas stimmte da nicht. Zuerst kam ein Anruf von Teruo Sato, der ihn nach Los Angeles zurückbefahl, und dann war ein zweiter Anruf angekommen, der noch verwirrender war.
Es gab seltsame Zeichen, die er nicht verstand – und sie verhießen nichts Gutes.
Er hatte eine Verabredung, und er sah ihr mit Grauen entgegen.
Am nächsten Morgen, um neun Uhr, griff Masao in seinem Hotelzimmer nach dem Telefon. Es machte ihm nichts mehr aus, ob das Gespräch abgehört wurde. Jetzt war es zu spät, sich darüber Sorgen zu machen. Er war jetzt ganz auf Kunio Hidaka angewiesen. Es gab keinen Platz mehr, wo er sich verstecken konnte. Masao wählte die Nummer, und kurz darauf klang die jetzt schon vertraute Stimme von Mr. Hidakas Sekretärin aus der Muschel.
»Büro Mr. Hidaka.«
»Ich habe schon paarmal angerufen. Ist Mr. Hidaka schon zurück?«
»Wen soll ich melden, bitte?«
»Sagen Sie ihm, hier ist Masao.«
»Einen Moment, bitte.«
Und dann kam Kunio Hidakas Stimme aus dem Apparat. »Masao-kun!«
Masao wurde von plötzlicher Freude überwältigt. Endlich! »Mr. Hidaka! Oh, Mr. Hidaka! Es ist sehr wichtig, ich muß sofort mit Ihnen sprechen. Können wir uns irgendwo treffen?«
Kunio Hidaka sagte: »Natürlich. Komm doch in mein Büro.«
Masao zögerte. Er hätte es vorgezogen, sich woanders mit Mr. Hidaka zu treffen. Die Fabrik wurde wahrscheinlich bewacht. Er mußte sehr vorsichtig sein. Er wußte, wenn er jetzt einen Fehler machte, würde es wahrscheinlich sein letzter sein.
»Haben Sie schon mit meinem Onkel Teruo gesprochen?« fragte er behutsam.
Es entstand eine kaum spürbare Pause. »Nein«, sagte Kunio Hidaka. »Habe ich nicht.«
Masao war überrascht. Er hatte sich vorgestellt, daß Teruo sich mit Mr. Hidaka in Verbindung setzen würde. Aber Masao vertraute diesem Mann. Er legte sein Leben in seine Hand. »Sehr gut. Ich komme sofort in Ihr Büro. Ich möchte Sie so schnell wie möglich sprechen.«
»Ja, komm nur.«
Langsam legte Kunio Hidaka den Hörer auf die Gabel und sah Teruo Sato an. »Haben Sie gut gemacht«, sagte Teruo. »Fahren Sie jetzt wieder nach Arizona und wickeln Sie dort ihre Geschäfte ab. Ich werde mich um Masao kümmern.«
»Es schien ihm viel daran gelegen, mit mir zu sprechen. Er …«
»Ich sagte Ihnen schon, Hidaka, er hat Probleme in letzter Zeit. Der Tod seiner Eltern hat ihn tief aufgewühlt. Überlassen Sie meinen Neffen ruhig mir.«
»Ja, Sir.«
Kunio Hidaka verbeugte sich und verließ das Büro.
Teruo gab der Sekretärin seine Anweisungen und machte es sich für die Wartezeit bequem. Alles war für Masaos Ankunft bereit. Diesmal würde kein Fehler passieren.
Masao hockte in seinem Hotelzimmer, neben dem Telefon, und dachte nach. Vielleicht hätte er doch darauf beharren sollen, sich irgendwo anders mit Mr. Hidaka zu treffen. Dort, in seinem Büro, würde er sich nackt und schutzlos fühlen. Er erinnerte sich, wie sein Foto in der New Yorker Fabrik verteilt worden war. Bestimmt hatte Teruo sein Bild in allen Matsumoto-Fabriken verbreitet. Und doch hatte Mr. Hidaka nichts dergleichen gesagt. Irgendwie, dachte Masao, läuft das alles auf einmal viel zu glatt. Vielleicht, dachte er, kommt es nur daher, weil ich schon zu lange auf der Flucht bin. Ich kann es nicht glauben, daß die Sache endlich zu einem Ende kommt.
Jedenfalls hatte er keine andere Wahl. Kunio Hidaka war seine letzte Hoffnung, wenn er am Leben bleiben wollte. Einen Moment war Masao in Versuchung, Mr. Hidaka noch einmal anzurufen und einen anderen Treffpunkt mit ihm zu verabreden. Dann aber dachte er: Nein. Ich muß ihm völlig vertrauen.
Masao verließ sein Hotel und machte sich auf den Weg.
Er nahm den Bus nach North Hollywood und stieg drei Blocks vor der Fabrik aus. Er ging langsam weiter, immer die Gesichter der Menschen auf der Straße beobachtend, immer nach etwas Verdächtigem Ausschau haltend. Alles erschien – normal. Niemand schien sich für ihn zu interessieren. Er war vielleicht übervorsichtig. Jetzt stand er vor dem gewaltigen weißen Fabrikgebäude mit dem stolzen Zeichen auf dem Dach: Matsumoto Industries. Menschen kamen und gingen durch die Pforte, es war ein stetiges Gewoge. Masao überquerte die Straße und ging auf das Tor zu. Er hatte es fast erreicht, als eine Männerstimme hinter ihm sagte: »Stehenbleiben! Nicht bewegen!«
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