Statt dessen sagte Masao: »Ich … ich bin aus der Schule abgehauen. Ich will einen Freund in Los Angeles besuchen.«
Die beiden Männer beobachteten ihn und überlegten, was sie mit ihm anfangen sollten. Masao hockte vor ihnen und wagte kaum zu atmen. Wenn sie beschlossen, ihn der Polizei auszuliefern, dann war er verloren. Er würde am Ende doch seinem Onkel in die Hände fallen.
Plötzlich lachte Al auf und sagte: »Ich kann dir keinen Vorwurf machen, Junge. Auch ich bin aus der Schule abgehauen, als ich so alt war wie du. Zum Teufel, als Fernfahrer verdiene ich mehr Geld als die meisten Doktoren .«
Masaos Herz machte einen Luftsprung. »Dann … dann wollen Sie mich nach Kalifornien mitnehmen?«
»Warum nicht?«
Es war, als ob eine gewaltige Last von Masaos Schultern genommen wäre. »Vielen, vielen Dank«, sagte er. »Wo sind wir jetzt?«
»In Hoosier Country. Indiana. In drei Tagen werden wir in Los Angeles sein. Komm. Die Landstraße ruft!«
Am gleichen Nachmittag saß Lieutenant Matt Brannigan an seinem Schreibtisch in Wellington und studierte die Akten eines Einbruchsfalles, als ein Detektiv in sein Büro kam und sagte: »Haste ’ne Minute Zeit, Matt?«
Brannigan stand auf und reckte sich. Er hatte seit acht Uhr morgens Dienst und war müde. Er wollte nach Hause.
»Hat es nicht Zeit bis morgen, Jerry? Cathy schlägt mich tot, wenn ich schon wieder zu spät zum Essen komme.«
Der Detektiv zögerte. »Sicher. Ich geb’ dir gleich morgen früh den Bericht.« Er wandte sich zum Gehen.
»Wart mal ’n Moment«, sagte Matt Brannigan. »Worum handelt es sich?«
»Erinnerst du dich an jenen Silver Arrow Jet, der vor zwei Wochen hier in der Gegend abstürzte?«
Lieutenant Brannigan erinnerte sich nur zu gut. Vier Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Yoneo Matsumoto, seine Frau und die beiden Piloten. »Yeah. Was ist los damit?«
»Scheint so, als wäre es kein Unfall gewesen.«
Brannigan starrte ihn an. »Was redest du da?«
»Wir haben gerade einen vorläufigen Bericht von der Bundes-Luftfahrtbehörde bekommen. Die Treibstofftanks waren voll Wasser. Diese Menschen sind ermordet worden!«
Matt Brannigan spürte, wie ihn ein Frösteln überlief. »Ist das eindeutig erwiesen?«
»Kein Zweifel. Irgend jemand hat Sabotage verübt. Wären die Treibstofftanks nicht frisiert gewesen, dann hätte der Pilot das Gewitter überfliegen können.«
Jerry fuhr fort, die Details des Berichts zu erläutern, aber Lieutenant Brannigan hörte nicht mehr zu. Er erinnerte sich an den jungen Masao, hörte noch seine Stimme: Meine Eltern wurden bei einem Flugzeugunglück getötet. Ich erbte die Firma meines Vaters. Mein Onkel versucht, sie mir wegzunehmen. Und dazu muß er mich töten.
Damals war sich Brannigan sicher gewesen, daß das ein wildes Märchen war; ein ausgerissener Teenager, der womöglich Drogen schluckte und Familienprobleme hatte, so was gab’s ja häufig genug. Er hatte mit dem Onkel des Jungen telefoniert und gesehen, wie dieser Onkel und sein Chauffeur Masao abholten. Der Junge hatte Brannigan leid getan. Er war so ein netter, ordentlicher Kerl gewesen.
Er erinnerte sich auch an seine Überraschung, als Teruo ihn später anrief und sagte: Mein Neffe hat unseren Chauffeur ermordet. Die Polizei muß ihn finden, bevor der Junge noch einen Mord begeht. Irgend etwas hatte damals nicht gestimmt! Lieutenant Brannigan hielt sich viel darauf zugute, ein guter Menschenkenner zu sein. Wie hatte er sich so in dem Jungen täuschen können? Aber er hatte seine Untersuchung abgeschlossen und Teruo Satos Geschichte geglaubt.
Diese letzte Nachricht aber änderte alles. Wenn jemand das Flugzeugunglück geplant hatte, mußte er ein Motiv haben. Und es gab kein stärkeres Motiv als das Riesen-Unternehmen Matsumoto Industries. Wie, wenn Masao die Wahrheit gesagt hatte?
Dann hatte Brannigan den Jungen in Lebensgefahr gebracht!
Der Detektiv hockte an seinem Tisch. Er nahm in Gedanken die Bruchstücke der Geschichte auseinander und setzte sie wieder zusammen. Er benötigte eine Menge Antworten, und er benötigte sie schnell.
Er blickte zu Jerry auf. »Du mußt sofort Matsumoto Industries überprüfen. Ich will wissen, wer der Hauptaktionär der Firma war, als Yoneo Matsumoto noch lebte, und wer es jetzt ist. Setz dich mit dem Anwalt der Firma in Verbindung. Ich will die Antworten morgen auf meinem Schreibtisch haben.«
Es war Nacht. Ein gelber Vollmond hing am Himmel über dem grauen Band des Highways, der sich unter den Reifen des riesigen Trucks abspulte. Masao hockte zwischen Al und Pete in der Fahrerkabine und beobachtete die Lichter vereinzelter Farmhäuser in der Ferne.
»Sind wir noch immer in Indiana?« fragte Masao.
»In Illinois.« Pete zog eine abgewetzte Landkarte aus dem Handschuhfach. »Hier sind wir«, sagte Pete und bezeichnete einen Punkt auf der Karte. »Wir fahren durch Missouri und Oklahoma, kreuzen diese Ecke von Texas, fahren nach Neu-Mexiko und dann nach Arizona, Nevada und Kalifornien. Es sind noch etwa 2000 Meilen.«
Masao starrte ihn ungläubig an: »Und das alles schaffen wir in drei Tagen?«
»Vergiß nicht, daß wir diesen Pott Tag und Nacht am Rollen halten. Darum sind wir auch zu zweit. Wir wechseln uns am Steuer ab.«
Wieder ließ Masao seinen Blick über die Landschaft gleiten. »Es ist so ein riesiges Land«, sagte er. »Viel größer als meine Heimat.« Aber wie schön ist mein Heimatland, dachte Masao. Schneebedeckte Berggipfel und glitzernde Seen, Flüsse und Wasserfälle. Er vermißte die Kirschblüten und die Menschen, die unter den Bäumen saßen und es sich gutgehen ließen. Er sehnte sich danach, mit seinen Freunden an einem der schönen Strande von Okinawa herumzutoben. Er wollte nach Hause, nach Japan.
Die einzige Frage war, ob er tot oder lebendig heimkehren würde. Er dachte an Teruo.
Teruo dachte an Masao. Der Junge war ihm schon wieder entwischt. Es war inzwischen ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden, ein Kampf mit den Waffen der List. Teruo wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war. Am Ende würde er Masao erwischen, und er würde ihn hart bestrafen.
Teruo wandte sich an Nobuo Hayashi, den Sicherheits-Chef von Matsumoto Industries. »Der Junge kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Teruo Sato. »Er muß gefunden werden. Und zwar von uns. Ich will nicht, daß sich die Polizei dieses Landes einmischt. Es war ein Fehler von mir, sie einzuschalten. Dies ist eine Familienangelegenheit.«
»Ich verstehe, Sir.«
»Tun Sie, was getan werden muß. Heuern Sie noch mehr Männer an. Verdoppeln Sie die Belohnung. Sparen Sie weder Mühe noch Geld. Bringen Sie mir meinen Neffen.«
Teruos Gesicht war nur noch eine finstere Maske, seine Augen funkelten wie Eiskristalle. »Er ist gefährlich. Er hat bereits einen Mord begangen. Wenn er sich nicht lebendig fangen läßt … bringen Sie ihn mir tot.«
Lieutenant Matt Brannigan hatte eine unruhige Nacht. Weil er keinen Schlaf finden konnte, war er um drei Uhr morgens leise aus dem Bett geschlüpft. Er hatte versucht, seine Frau nicht zu wecken, aber sie hatte ihn gehört und die Nachttischlampe angeknipst. »Was ist los, Matt? Verdauungsbeschwerden?«
»Blödsinn. Ich habe vielleicht einen unschuldigen Jungen in den Tod geschickt.« Er fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes graues Haar. »Er wollte mit mir sprechen, aber ich habe nicht auf ihn gehört, Cathy. Ich habe ihn einem Mann in die Hände geliefert, der ihn umbringen will.«
»Bist du sicher?«
»Nein. Aber ich werd’s in ein paar Stunden wissen. Die Sache gefällt mir nicht. Vielleicht ist der Junge schon tot. Mit dieser Last werde ich dann weiterleben müssen.«
»Warum versuchst du nicht, noch ein wenig zu schlafen? Du kämpfst gegen Schatten.«
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