Ohne aufzublicken, brummte der Mann: »Los Angeles.«
Masao kam es vor, als sauste ein Adrenalinstoß durch seine Adern. Los Angeles! Irgendwie mußte er es schaffen, sich in diesen Lastwagen einzuschleichen. Er trat einen Schritt zurück und beobachtete, wie die Männer vorsichtig allerlei Möbel auf die Ladefläche schleppten. Der Laster war beinahe voll beladen. Wenn er erst ganz voll war, dann würde kein Zentimeter Platz mehr frei bleiben. Verdammt eng würde es werden, falls Masao es überhaupt schaffte, hineinzukommen. Aber das war nicht seine Hauptsorge. Was ihn am meisten beschäftigte, war die Tatsache, daß die Reise quer durch Amerika sechs oder sieben Tage dauerte – und er würde die ganze Zeit ohne Wasser und ohne Nahrung in diesem Lastwagen eingesperrt bleiben.
Macht nichts, dachte Masao. Nichts machte ihm etwas aus, wenn er nur nach Los Angeles kam, wo er Kunio Hidaka aufsuchen und um Hilfe bitten konnte.
Es war eine Gruppe von vier Männern, die die schweren Möbelstücke auf großen Paletten heranrollten, auf eine Rampe schoben und auf die Ladepritsche des Trucks wuchteten. Masao wußte, daß er genau den richtigen Zeitpunkt abpassen mußte. Falls er zu früh auf den Lastwagen kletterte, konnte er entdeckt werden. Wartete er einen Moment zu lange, konnte er ausgesperrt bleiben.
Er beobachtete, wie eine Gruppe Fernfahrer aus der Kantine auf der anderen Seite des Frachthofes kam, und der Gedanke an Essen ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. In diesem Augenblick hätte er sogar mit Vergnügen eine deutsche Bratwurst gegessen. Er schaute wieder zur Kantine hinüber. Es würde nur eine Minute dauern, hinzulaufen und ein paar Sandwichs und ein paar Dosen Cola zu holen. Dann hätte er auf der langen Reise über Land etwas gegen Hunger und Durst.
Die Versuchung war zu stark, als daß er widerstehen konnte. Im Laufschritt rannte Masao zur Kantine. Dort war es laut und rauchig, die Fernfahrer hockten an Tischen und an einer langen Theke. Masao bahnte sich einen Weg zur Theke und blieb stehen. Er war zu nervös, um sich hinzusetzen. Eine einzige Kellnerin bediente die fünfzehn Gäste, sie schwatzte und flirtete mit ihnen, während Masao versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie schenkte einem der Gäste Kaffee nach und kam endlich zu Masao herüber.
»Was möchtest du?«
Das hatte sich Masao noch gar nicht überlegt. Er schaute zur Anschlagtafel über der Theke hinauf. »Ich möchte ein Hamburger-Sandwich.«
»Okay.« Sie schrieb die Bestellung auf einen Block und wandte sich zum Gehen.
»Und ein Käse-Sandwich.«
»Okay.« Wieder wollte sie gehen.
»Ein Hühnchen-Sandwich.«
Diesmal starrte sie Masao verwundert an. »Ist das alles?«
»Nein, Ma’am.« Er rechnete fieberhaft. Sechs oder sieben Tage. Zwei Mahlzeiten pro Tag müßten reichen. Wieder schaute er zur Anschlagtafel hinauf. »Ein Eier-Sandwich, eines mit Corned Beef, eins mit Roast Beef, ein Roggenbrötchen mit Schinken, ein Putenschnitzel-Sandwich, eines mit Schweizer Käse, eins mit Frikadelle, eins mit Salami, eins mit Schinken und Tomaten, und ein Mortadella-Sandwich.«
Die Kellnerin riß den Mund auf. Endlich fand sie ihre Sprache wieder. »Und was zu trinken?«
»Ja, Ma’am. Ein Dutzend Colas.«
Sie lächelte und sagte: »Du hast aber einen guten Appetit.«
Masao schaute ihr nach, wie sie zum Küchentresen ging und seine Bestellung aufgab. Wenigstens brauchte er unterwegs nicht zu hungern. Aber die Essensdüfte, die ihn hier umschwebten, machten ihn regelrecht gierig, und am liebsten hätte er sich gleich eine Pastete mit Kaffee bestellt. Aber er wollte keine Zeit verlieren. Hoffentlich, so dachte er, beeilten sie sich mit seinen Sandwiches.
Er hockte neben der Kasse auf einem Hocker und hörte zu, was die Fernfahrer redeten, während sie ihre Rechnung beglichen.
»Wohin fährst du, Charly?«
»Nach Tulsa. Teile für einen Bohrturm liefern.«
»Komme gerade von dort. Das Wetter war lausig.«
»Hast du schon deinen neuen Lastwagen, Tony?«
»Nächstes Jahr. Die Frau brauchte ’ne Operation.«
»Dein Pech.«
»Yeah. Wer kann sich heutzutage noch leisten, krank zu werden?«
Masao beobachtete, wie die Kellnerin Bestellungen aufnahm und Rechnungen schrieb. Mach schnell, dachte er. Mach schneller!
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte die Kellnerin: »Deine Bestellung kommt gleich.«
»Vielen Dank.«
Im gleichen Moment hörte er neben sich an der Kasse eine Stimme sagen: »Jetzt müßten sie mit dem Aufladen fertig sein. Komm, auf nach Los Angeles!«
Masao erstarrte das Blut in den Adern. Er fuhr herum und sah den Fahrer des Lastwagens – seines Lastwagens! – und den Beifahrer, die gerade ihre Rechnung bezahlten.
»Geh du schon mal. Ich laß inzwischen die Frachtpapiere unterschreiben«, sagte der Beifahrer.
Masao blickte gehetzt zum Küchentresen hinüber. Er sah, wie jemand seine Sandwiches einpackte, aber er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Die beiden Fernfahrer standen bereits an der Tür.
Masao sprang auf und rannte hinter ihnen her. Die Kellnerin schrie: »Heh … deine Sandwiches!«
Aber Masao war schon draußen.
Der Truck stand noch da, und eben wurde das letzte Möbelstück aufgeladen.
Jeden Augenblick konnten sie die Heckklappe zuschlagen und abschließen. Es war genau der richtige Moment, um hineinzuschlüpfen. Aber die Arbeiter standen vor der Klappe beisammen und unterhielten sich mit dem Fernfahrer. Jetzt konnte Masao unmöglich an ihnen vorbeischlüpfen. Er dachte daran, wieviel Frust er schon erlebt hatte, wie oft er ganz nahe dran gewesen war, endlich aus New York wegzukommen. Und jetzt schien es, als wäre wieder mal alles vergeblich.
Während Masao solchen trüben Gedanken nachhing, ertönte vom Lastwagen nebenan ein lautes Geschepper. Alle drehten sich um, um nachzusehen, was passiert war.
Ein großer Kronleuchter war von einer Palette auf den Boden gefallen und in tausend Scherben zersprungen. Der unglückliche Packer, der für das Mißgeschick verantwortlich war, fing an zu fluchen, während die anderen Fahrer und Arbeiter sich um ihn versammelten, um ihn zu hänseln und auszulachen.
Masaos Herz machte einen Luftsprung, als er sah, daß auch sein Fernfahrer zu der Gruppe hinüberging. Blitzartig rannte Masao auf den unbewachten Lastwagen los. Er schaute sich um, ob ihn auch wirklich niemand beobachtete, und sprang auf die Ladepritsche. Rasch bahnte er sich einen Weg ins Innere, kletterte über Stühle und Tische, tauchte unter Leuchtern und Sofas durch. Der Lastwagen war länger, als Masao sich vorgestellt hatte, und erst als er sich ganz am Ende der Pritsche hinter ein breites Sofa duckte, fühlte er sich in Sicherheit. Hier würden sie ihn niemals entdecken. Er dachte wehmütig an die vielen Sandwiches und Cola-Dosen, die drüben in der Kantine auf ihn warteten. Aber jetzt war es zu spät, um sich darüber Sorgen zu machen. Er würde am Leben bleiben. Er war ein Matsumoto.
Ein paar Minuten später hörte Masao einen lauten Knall. Die Heckklappe wurde zugeschlagen, und er war in der Finsternis des Lastwagens eingesperrt. Er hörte, wie der Motor ansprang, und spürte das Beben des großen Fahrzeugs, als es sich in Bewegung setzte.
Er war unterwegs – nach Los Angeles, Kalifornien.
Er war in einem schönen Restaurant in Kyoto, er saß an einem Tisch mit herrlichem weißen Leinen und goldenen Eßstäbchen. Das Restaurant war groß, aber er war der einzige Gast. Es war friedlich und still, das einzige Geräusch war das Klingeln der Windharfe draußen vor der Tür. Ein Kellner kam an seinen Tisch und brachte eine Platte, und auf der Platte lag ein Fisch.
Dies wurde extra für dich gekocht, sagte der Kellner. Der Fisch sah köstlich aus, und er war hungrig. Er nahm die Eßstäbchen in die Hand und gabelte ein Stück Fisch auf und steckte es in den Mund. Im selben Moment wußte er, daß der Fisch ein giftiger Fugu war. Er blickte auf und erkannte, daß der Kellner sein Onkel Teruo war, der ihn angrinste.
Читать дальше