»Hat er Ihnen denn keine Andeutung gemacht? Hat er denn keinen Namen erwähnt? Irgend jemand, den er um Hilfe bitten könnte?«
Er hatte einen Namen erwähnt. Seinen Freund Kunio Hidaka.
Sanae blickte dem Detektiv fest in die Augen und sagte: »Nein, er hat niemanden erwähnt.«
Sie würde sich von diesem Polizisten nicht durch einen Trick überlisten lassen, ihm zu helfen, damit er Masao fangen konnte.
Lieutenant Brannigan seufzte. »Schade. Nun, jedenfalls vielen Dank.« Er stand auf. »Sollten Sie sich doch noch an etwas erinnern, rufen Sie mich bitte an.« Er griff in seine Tasche. »Hier ist meine Visitenkarte.«
Sanae steckte die Karte ein, ohne sie anzusehen. Sie hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen.
»Wir sind gleich in Los Angeles«, verkündete Al.
Masao konnte es kaum glauben, daß sie ihr Ziel wahrhaftig erreicht hatten.
Die Fahrt durch das Land war faszinierend gewesen. Es war, wie sein Vater ihm gesagt hatte: Amerika hatte fünfzig Staaten, und jeder Staat war ein Land für sich. Masao hatte die Häfen von New York gesehen, die reichen Farmen von Indiana und Illinois, die weiten Prärien von Texas und die unfruchtbare Wüste von Arizona. Als sie dann nach Kalifornien kamen, wurde das Land grün und farbenprächtig und reich an Früchten und Blumen, und es erinnerte Masao an seine Heimat. In den letzten zwei Stunden waren die Farmen und satten Weiden zuerst von vereinzelten Häusern und Fabriken, dann von Kleinstädten und Vororten abgelöst worden. Und jetzt sahen sie schon die Wolkenkratzer von Los Angeles selbst. Die Skyline war nicht so gewaltig wie die von Manhattan, aber Masao fand, daß sie sauberer und moderner wirkte.
Zum erstenmal, seit dieser unglaubliche Alptraum angefangen hatte, fühlte sich Masao in Sicherheit. Er hatte es geschafft, seinem Onkel und der Polizei von New York zu entkommen und nach Kalifornien zu fahren. Kunio Hidaka würde ihm helfen. Wenn Mr. Hidaka erst die ganze Geschichte erfuhr, würde er wissen, was zu tun war.
Während der sechstägigen Reise hatte Masao den Fahrer Al und seinen Gehilfen Pete besser kennengelernt. Er hatte von ihren Frauen und ihren Kindern gehört und erfahren, wie die amerikanischen Arbeiter denken. Sie waren freundlich und großzügig, offen und unkompliziert. Masao hatte das Gefühl, daß es gut war, solche Freunde zu haben – aber schlimm, sie zum Feind zu haben. Sie lachten über Masaos Aussprache gewisser schwieriger Wörter, aber es war kein unfreundliches Lachen. »Du mußt noch dein r verbessern«, ermahnte ihn Pete. »Wie du es aussprichst, klingt es eher wie l . Wenn du zum Beispiel Reis sagst, klingt es wie Läus . Reis ist etwas zum Essen, Läuse kämmt man sich aus den Haaren!«
Masao überlegte, wie sie sich anstellen würden, Japanisch zu sprechen, aber er bemühte sich, die Wörter sorgfältiger auszusprechen. Eine Sache, die Masao bei seinen neuen Freunden nicht verstand, war ihre Einstellung zur Gewerkschaft. Sie gehörten zur berühmten Teamster’s Union.
»Die mächtigste Gewerkschaft der Welt«, prahlte Al. »Wir könnten dieses Land binnen vierundzwanzig Stunden auf die Knie zwingen.«
»Aber warum wollt ihr das?« fragte Masao.
»Ach, das ist nur so eine Redensart. Ich meine – unsere Arbeitgeber müssen uns alles geben, was wir verlangen.«
Masao versuchte, ihnen die Einstellung der Arbeiter in Japan zu erklären. »Es ist wie eine große Familie. Der Arbeiter ist sein Leben lang gut versorgt. Er weiß, daß er nicht entlassen wird. Der Wohlstand des Unternehmens ist sein Wohlstand. Er ist sehr stolz auf seine Arbeit.«
»Andre Völker, andre Sitten«, sagte Pete.
Damit war das Gespräch beendet.
Als die Hochhäuser der City von Los Angeles vor ihnen aufragten, sagte Al: »Wir kommen genau nach Fahrplan.«
Der Lastzug verließ die Autobahn und bog in die San Pedro Street ein. Ein paar Minuten später rollten sie auf einen riesigen Verladehof. Al bremste den mächtigen Truck weich ab und schaltete den Motor aus.
Er drehte sich zu Masao um. »Kommst du jetzt klar, Junge?«
»Ja, vielen Dank. Ich komm jetzt alleine weiter.«
»Laß dich nicht erwischen«, sagte Pete.
Masao schaute ihn erschrocken an. »Mich erwischen lassen?«
»Du weißt schon. Zurück in die Schule.«
»Oh«, stotterte Masao. »Ich … ich werd schon aufpassen.« Er hatte die Story ganz vergessen, die er ihnen erzählt hatte.
Er kletterte aus der Führerkanzel. »Ich möchte euch beiden vielmals danken. Ich werde euch immer dankbar sein.«
Er meinte es aufrichtiger, als sie ahnen konnten. Sie hatten ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Masao wollte irgendwie tiefe Dankbarkeit zeigen. »Falls ihr jemals nach Tokyo kommt«, sagte er, »wäre es mir eine Ehre, euch zu bewirten.«
Die beiden Männer grinsten über die Idee, daß dieses Kerlchen sie bewirten wollte.
»Wirklich nett von dir«, sagte Al. »Wir stecken’s uns an den Hut.«
»An den Hut?«
»Yeah. Ich meine, wir heben’s uns für ein andermal auf. Paß gut auf dich auf!«
»Ich will mein Bestes tun«, versprach Masao. Jetzt war es ja nicht mehr schwer. Er hatte es geschafft.
Zehn Meter weiter stapelte ein japanischer Arbeiter Matsumoto-Fernsehgeräte in einen Lieferwagen. Er unterbrach seine Arbeit und beobachtete, wie Masao aus der Führerkanzel kletterte. Er starrte lange hinüber, dann griff er in seine Tasche und holte ein Foto heraus. Noch einmal musterte er Masao, um sicherzugehen, daß er keinen Irrtum beging. Dann eilte der Arbeiter über den Platz zu einer Telefonzelle.
Er wählte die Fernsprechvermittlung und sagte: »Ich möchte ein Direkt-Gespräch nach New York anmelden, mit Mr. Teruo Sato …«
Hollywood war ganz anders, als Masao es sich vorgestellt hatte. Er hatte immer gemeint, es sei der Gipfel von Ruhm und Glanz, das Land von John Wayne und Humphrey Bogart und James Cagney und Gary Grant und Charlie Chaplin.
Die Wirklichkeit war enttäuschend. Sicher, da waren die Namen der berühmten Film-Stars – in die Bürgersteige der Stadt eingelassen. Die Namen von Marilyn Monroe und Greta Garbo und Clint Eastwood und Bruce Lee. Aber der Hollywood Boulevard war schmutzig und verwahrlost. Er war von kleinen Arkaden und Pizzerias und Astrologenbuden und schäbigen Bars eingesäumt. Es war wie eine billige Version der Ginza von Tokyo. Aber zumindest, dachte Masao, wird mich hier niemand suchen.
Er ging in ein Drugstore, wo es eine Telefonzelle gab.
»Entschuldigung«, sagte Masao zu dem Mädchen hinter der Theke. »Ich möchte eine Telefonnummer finden. Wie macht man das?«
»Einfach die Auskunft anrufen. 411.«
Ach so. Es war genau wie in New York. »Vielen Dank.«
Masao trat in die Telefonzelle und wählte die Nummer. Eine Stimme sagte: »Hier Auskunft. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, danke«, antwortete Masao. »Ich suche die Telefonnummer der Matsumoto-Fabrik. Sie muß in North-Hollywood liegen.«
»Buchstabieren Sie bitte den Namen.«
Masao buchstabierte. Ein paar Sekunden später hatte Masao die Nummer. Er drückte kurz den Hörer auf die Gabel und wählte erneut.
Eine fröhliche Stimme sagte: »Guten Morgen, hier Matsumoto Industries.«
Masao spürte, wie sein Herz schneller schlug. »Ich möchte mit Mr. Kunio Hidaka sprechen, bitte.«
»Moment. Ich verbinde.«
Gleich darauf sagte eine andere Stimme: »Hier Büro von Mr. Hidaka.«
Masao konnte es kaum erwarten: »Bitte, kann ich mit Mr. Hidaka sprechen?«
»Tut mir leid. Mr. Hidaka ist nicht in der Stadt. Kann ich Ihnen helfen?«
Masaos Herz setzte beinahe aus. »Ich …« Er zögerte. Er mußte Mr. Hidaka alles selbst erklären. »Wann kommt er denn wieder?«
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