»Aber …«
»Ich weiß, ich weiß, mucho Dank, Solidarität, auf ewig Schwestern, bla-bla-bla. Ich mag nur nicht umarmt werden. Sind wir hier fertig oder nicht?«
»Wir sind fertig.«
»Und an Ihrer Stelle würde ich den Revolver auf der Heimfahrt in den Fluss werfen. Haben Sie das Geständnis verbrannt?«
»Ja. Klar doch.«
Betsy nickte. »Und ich lösche die Nachricht, die Sie auf meinen Anrufbeantworter gesprochen haben.«
Tess ging davon. Sie sah sich dabei einmal um. Betsy Neal saß noch auf der Bank. Sie hatte ihr Auge wieder eingesetzt.
48
Als sie in ihrem Expedition saß, erkannte Tess, dass es eine extrem gute Idee sein könnte, die letzten Fahrten aus ihrem Navi zu löschen. Sie drückte den Einschaltknopf, und der Bildschirm leuchtete auf. Tom sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«
Tess löschte die gespeicherten Routen, dann schaltete sie das Navi wieder aus. Sie machte eigentlich keinen Trip, sondern wollte nur nach Hause. Und sie traute sich zu, den Weg zurück selbst zu finden.
Streeter sah das Schild nur, weil er am Straßenrand halten und spucken musste. Er spuckte jetzt oft und meistens ohne lange Vorwarnung - manchmal ein Anflug von Übelkeit, manchmal ein kupfriger Geschmack hinten im Mund und manchmal gar nichts; nur würg , und schon kam alles heraus, eine schöne Bescherung. Das machte das Autofahren zu einem riskanten Vorhaben, aber trotzdem fuhr er jetzt viel, teils weil er im Spätherbst nicht mehr würde fahren können und teils weil er über vieles nachdenken musste. Nachdenken hatte er immer am besten am Steuer können.
Er war auf der Harris Avenue Extension unterwegs: einer breiten Durchfahrtsstraße, die zwei Meilen weit den Derry County Airport entlang und zwischen den dort angesiedelten Firmen - hauptsächlich Motels und Lagerhäuser - hindurchführte. Auf dieser Verlängerung herrschte tagsüber lebhafter Verkehr, weil sie den Westen Derrys mit dem Osten verband und eine Flughafenzufahrt war, aber an diesem Abend war sie fast menschenleer. Streeter parkte auf dem Radweg, riss eine der durchsichtigen Plastikspucktüten von dem Stapel auf dem Beifahrersitz, hielt das Gesicht darüber und legte los. Sein Abendessen erschien nochmals. Allerdings nicht vor seinen Augen. Die hatte er nämlich geschlossen. Wenn man einmal eine volle Spucktüte gesehen hatte, kannte man sie alle.
Zu Beginn der Kotzphase hatte es noch keine Schmerzen gegeben. Dr. Henderson hatte ihn vorgewarnt, dass sich
Er hob den Kopf von dem Beutel, öffnete das Handschuhfach, holte ein Stück Bindedraht heraus und versiegelte sein Abendessen, bevor der ganze Wagen danach stank. Ein Blick nach rechts zeigte ihm glücklicherweise einen Abfallkorb mit einem fröhlichen schlappohrigen Köter und der Mahnung DERRY DAWG SAGT: »TUT ABFALL HIN, WO ER HINGEHÖRT!« in Schablonenschrift auf der Außenseite.
Streeter stieg aus, ging zu dem Abfallkorb hinüber und entsorgte den letzten Auswurf seines versagenden Körpers. Die Sommersonne ging rot über dem ebenen (und gegenwärtig verlassenen) Gelände des Flughafens unter, und der an seinen Hacken klebende Schatten war lang und grotesk dünn. Als wäre er Streeters Körper vier Monate voraus, bereits voll von dem Krebs erfasst, der ihn bald bei lebendigem Leib auffressen würde.
Er wollte zu seinem Wagen zurückgehen, als er das Schild auf der anderen Straßenseite sah. Zuerst glaubte er - wahrscheinlich weil seine Augen noch tränten -, es besage HAARVERLÄNGERUNG. Dann blinzelte er und sah, dass dort in Wirklichkeit FAIRE VERLÄNGERUNG stand. Und darunter in kleinerer Schrift: FAIRER PREIS.
Faire Verlängerung, fairer Preis. Das klang gut und irgendwie auch vernünftig.
Jenseits der Fahrbahn, außerhalb des Metallzauns, mit dem der County Airport eingezäunt war, erstreckte sich ein breiter Kiesstreifen. Dort bauten viele Leute tagsüber, wenn die Straße befahren war, alle möglichen Stände auf, weil
Nun, Krebs machte keinen Unterschied, was Geistesgaben betraf. Ob clever oder dumm, er würde bald den Platz verlassen und seinen Spielerdress ausziehen müssen.
Wo einst der Schneemann seine Ware ausgelegt hatte, war ein Kartentisch aufgestellt. Den hinter ihm sitzenden pummeligen Mann schützte ein großer gelber Schirm, der keck schräg gestellt war, vor den Strahlen der rot untergehenden Sonne.
Streeter stand eine Minute lang vor seinem Wagen, wäre fast wieder eingestiegen (der pummelige Mann achtete nicht auf ihn; er schien sich auf einem kleinen tragbaren Fernseher etwas anzusehen), aber dann siegte seine Neugier doch. Er sah nach links und rechts, sah kein Auto kommen - die Verlängerung war um diese Zeit wie erwartet wie tot, weil alle Pendler zu Hause beim Abendessen saßen und es für
Der pummelige Mann sah auf. »Hallo«, sagte er. Bevor er den Fernseher ausschaltete, sah Streeter noch, dass der Kerl sich die Nachrichtensendung Inside Edition angesehen hatte. »Wie geht’s uns heute Abend?«
»Na ja, was mit Ihnen ist, weiß ich nicht, aber mir ist es schon besser gegangen«, sagte Streeter. »Bisschen spät, um etwas zu verkaufen, oder? Außer in der Hauptverkehrszeit herrscht hier kaum Verkehr. Wir sind hier nämlich auf der Rückseite des Airports. Hier wird nur Fracht angeliefert. Fluggäste fahren über die Witcham Street an.«
»Ja«, sagte der pummelige Mann, »aber leider verbietet der Flächennutzungsplan kleine Straßenstände wie meinen auf der belebten Seite des Flughafens.« Er schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit der Welt. »Ich wollte um sieben Schluss machen und heimfahren, aber ich hatte das Gefühl, dass noch ein potenzieller Kunde vorbeikommen könnte.«
Streeter begutachtete den Tisch, sah nichts, was zu verkaufen war (außer vielleicht der Fernseher), und lächelte. »Ich kann nicht wirklich ein Kunde sein, Mr. …?«
»George Elvid«, sagte der pummelige Mann. Er stand auf und streckte eine ebenso pummelige Hand aus.
Streeter schüttelte sie. »Dave Streeter. Und ich kann nicht wirklich ein Kunde sein, weil ich keine Ahnung habe, was Sie verkaufen. Auf den ersten Blick habe ich gedacht, auf dem Schild stünde Haar verlängerung.«
»Wünschen Sie denn eine Haarverlängerung?«, fragte Elvid und musterte ihn kritisch. »Das frage ich, weil Ihres schütter zu werden scheint.«
»Bald ist es ganz weg«, sagte Streeter. »Ich mache eine Chemo.«
»Du meine Güte. Das tut mir leid.«
»Danke. Was eine Chemo allerdings nutzen soll, wenn …« Er zuckte mit den Achseln. Irgendwie staunte er darüber, wie leicht es war, solche Dinge einem Fremden anzuvertrauen. Er hatte noch nicht einmal seine Kinder eingeweiht, obwohl Janet natürlich Bescheid wusste.
»Keine großen Chancen?«, fragte Elvid. In seiner Stimme lag einfaches Mitgefühl - nicht mehr und nicht weniger -, und Streeter spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Vor Janet zu weinen war ihm entsetzlich peinlich, und er hatte es nur zweimal getan. Hier, vor diesem Fremden, schien das in Ordnung zu sein. Trotzdem zog er sein Taschentuch aus der Hüfttasche und fuhr sich damit über die Augen. Über dem Flugplatz setzte jetzt ein Sportflugzeug zur Landung an. Vor der roten Sonne wirkte seine Silhouette wie ein schwebendes Kruzifix.
»Gar keine Chance, heißt es«, sagte Streeter. »Also ist die Chemo wohl nur … ich weiß nicht …«
»Augenwischerei?«
Streeter lachte. »Genau das ist sie!«
»Vielleicht sollten Sie daran denken, die Chemo gegen zusätzliche Schmerzmittel einzutauschen. Sie könnten aber auch einen kleinen Handel mit mir abschließen.«
»Wie ich anfangs schon gesagt habe, kann ich nicht wirklich ein Kunde sein, bevor ich weiß, was Sie verkaufen.«
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