»Die Leichen, die du in der Wellblechröhre gesehen hast … war eine davon klein? Könnte es eine Kinderleiche gewesen sein?«
Nein, klein war keine der beiden gewesen. Aber vielleicht war der Durchlass unter der Stagg Road nicht das einzige Leichenversteck der Brüder Strehlke gewesen.
»Leg sie wieder hin, wo du sie gefunden hast. Die Polizei soll sie finden. Du musst dich davon überzeugen, dass er keinen Computer hat, in dem Zeug über dich gespeichert ist. Danach musst du schleunigst verschwinden.«
Etwas Feuchtkaltes schnüffelte an ihrer Hand. Sie hätte beinah aufgeschrien. Es war Goober, der mit glänzenden Augen zu ihr aufsah.
»Mehr Fleisch!«, sagte Goober, und Tess gab ihm noch etwas.
»Wenn Al Strehlke einen Computer hat«, sagte Tess, »kannst du dir sicher sein, dass er mit einem Passwort geschützt ist. Und seiner wird nicht eingeschaltet sein, damit ich darin herumschnüffeln kann.«
»Dann nimmst du ihn mit und wirfst ihn auf der Heimfahrt in den gottverdammten Fluss. Soll er doch bei den Fischen schlafen.«
Aber hier gab es keinen Computer.
An der Haustür verfütterte Tess das restliche Hackfleisch an Goober. Vielleicht würde er alles auf den Teppich kotzen, aber das würde Big Driver nicht mehr stören.
»Bist du nun zufrieden, Tessa Jean?«, fragte Tom. »Bist du jetzt davon überzeugt, keinen Unschuldigen getötet zu haben?«
Das würde sie wohl sein müssen, weil Selbstmord keine Option mehr zu sein schien. »Was ist mit Betsy Neal, Tom? Was ist mit ihr?«
Tom gab keine Antwort … weil das wieder überflüssig war. Schließlich war sie er.
Oder etwa nicht?
Das wusste Tess nicht genau. Aber spielte das eine Rolle, solange sie wusste, was sie als Nächstes zu tun hatte? Was morgen betraf, war das ein anderer Tag. Zumindest damit hatte Scarlett O’Hara recht gehabt.
Am wichtigsten war, dass die Polizei von den Frauenleichen in dem Durchlass unter der Straße erfahren musste. Und sei es nur, weil es Freunde und Angehörige gab, die sich ihretwegen noch sorgten. Außerdem auch …
»Weil die Plüschente darauf schließen lässt, dass es weitere geben könnte.«
Das war ihre eigene Stimme.
Und das war in Ordnung.
46
Um halb acht Uhr am folgenden Morgen, nach weniger als drei Stunden unruhigen, von Albträumen gestörten Schlafs, fuhr Tess ihren Computer hoch. Aber nicht, um zu schreiben. Nichts hätte ihr ferner liegen können.
War Betsy Neal ledig? Tess glaubte es. Sie hatte an jenem Tag in Neals Büro keinen Ehering bemerkt, den sie aber übersehen haben konnte, und dort hatte es auch keine Familienbilder gegeben. Das einzige Bild, an das sie sich erinnern konnte, war ein gerahmtes Foto von Barack Obama … und der war schon verheiratet. Also ja - Betsy Neal war vermutlich ledig oder geschieden. Und sie stand vermutlich nicht im Telefonbuch. In diesem Fall würde eine Computerrecherche ihr überhaupt nichts nutzen. Tess hätte natürlich zum Stagger Inn hinausfahren und sie dort aufsuchen
»Wieso machst du die Sache künstlich schwierig?«, fragte Fritzy vom Fensterbrett aus. »Sieh wenigstens im Telefonbuch von Colewich nach. Und was rieche ich da an dir? Ist das etwa Hund ?«
»Ja. Das ist Goober.«
»Verräterin«, sagte Fritzy verächtlich.
Im Telefonbuch standen genau ein Dutzend Neals. Ein Eintrag lautete E Neal . E wie Elizabeth? Das ließ sich nur auf eine Weise feststellen.
Ohne zu zögern - jedes Zögern hätte ihr bestimmt den Mut geraubt -, tippte Tess die Nummer ein. Sie schwitzte, und ihr Herz jagte.
Das Telefon klingelte einmal. Zweimal.
Wahrscheinlich ist sie das nicht. Das könnte eine Edith Neal sein. Eine Edwina Neal. Sogar eine Elvira Neal.
Dreimal.
Wenn das Betsy Neals Telefon ist, dann ist sie bestimmt nicht zu Hause. Sie macht wahrscheinlich Urlaub in den Catskills …
Viermal.
… oder ist mit einem der Zombie Bakers zusammen, wie wäre das? Mit dem Lead-Gitarristen. Vielleicht singen sie unter der Dusche »Can Your Pussy Do the Dog?«, nachdem sie …
Am anderen Ende wurde abgenommen, und Tess erkannte die Stimme aus dem Hörer sofort.
»Hallo, hier ist der Anschluss von Betsy, aber ich kann gerade nicht ans Telefon kommen. Jetzt folgt ein Piepston, und ihr wisst, was ihr dann tun könnt. Schönen Tag noch.«
Ich hatte einen schlimmen Tag, danke, und die Nacht war noch weit …
Der Piepston kam, und Tess hörte sich sprechen, bevor sie überhaupt wusste, dass sie das wollte. »Hallo, Ms. Neal, hier ist Tessa Jean - die Willow-Grove-Lady? Wir haben uns im Stagger Inn kennengelernt. Sie haben mir mein TomTom zurückgegeben und mich um ein Autogramm für Ihre Oma gebeten. Sie haben gesehen, wie ich zugerichtet war, und ich habe Ihnen ein paar Lügen erzählt. Es war nicht mein Freund, Ms. Neal.« Tess begann rascher zu sprechen, weil sie fürchtete, das Tonband könnte zu Ende sein, bevor sie alles erzählt hatte … und entdeckte, dass sie unbedingt alles erzählen wollte. »Ich bin vergewaltigt worden, und das war schlimm, aber dann wollte ich mich dafür rächen und … Ich … ich muss mit Ihnen darüber reden, weil …«
Ein Klicken in der Leitung, dann hörte Tess Betsy Neals Stimme. »Fangen Sie noch mal von vorn an«, sagte sie, »aber reden Sie langsam. Ich schlafe noch halb.«
47
Sie trafen sich zum Lunch im Stadtpark von Colewich. Dort saßen sie auf einer Bank in der Nähe des Musikpodiums. Tess glaubte, nicht hungrig zu sein, aber Betsy Neal drängte ihr ein Sandwich auf, und Tess merkte überrascht, dass sie es mit großen Bissen aß, die sie daran erinnerten, wie Goober Lester Strehlkes Hackfleisch verschlungen hatte.
»Fangen Sie vorn an«, sagte Betsy. Sie war ruhig, fand Tess - fast unnatürlich ruhig. »Fangen Sie vorn an, und erzählen Sie mir alles.«
Tess begann mit der Einladung von Books & Brown Baggers. Betsy Neal sagte wenig und warf nur ab und zu ein »Mhm« oder »Okay« ein, damit Tess wusste, dass sie weiter
Als sie fertig war, war es kurz nach eins. Die wenigen Leute, die in den Park gekommen waren, um hier ihre Mittagspause zu machen, waren wieder fort. Zwei junge Mütter schoben Kinderwagen vor sich her, aber sie waren ziemlich weit entfernt.
»Mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte Betsy Neal. »Sie wollten sich erschießen, aber dann hat Ihnen eine Phantomstimme geraten, stattdessen zu Alvin Strehlkes Haus zurückzufahren.«
»Ja«, bestätigte Tess. »Wo ich erst meine Handtasche gefunden habe. Und dann die Plüschente mit dem Blut am Schnabel.«
»Ihren Slip haben Sie im Haus des jüngeren Bruders gefunden.«
»In Little Drivers Haus, ja. Er liegt in meinem Expedition. Die Handtasche auch. Wollen Sie sie sehen?«
»Nein. Was ist mit dem Revolver?«
»Der liegt auch in meinem Wagen. Noch mit einer Patrone geladen.« Sie musterte Neal neugierig und dachte wieder: Das Mädchen mit den Picasso-Augen. »Haben Sie denn keine Angst vor mir? Sie sind die letzte Mitwisserin. Zumindest die einzige, die mir einfällt.«
»Wir sind in einem öffentlichen Park. Außerdem habe ich zu Hause auf meinem Anrufbeantworter Ihr ziemlich ausführliches Geständnis.«
Tess blinzelte. Noch etwas, woran sie nicht gedacht hatte.
»Selbst wenn Sie es irgendwie schaffen würden, mich umzulegen, ohne dass die beiden jungen Mütter dort drüben etwas merken …«
»Ich bin zu erledigt, um noch jemanden umzubringen. Weder hier noch sonst wo.«
»Freut mich, das zu hören. Wenn Sie es nämlich täten - und auch wenn Sie meinen Anrufbeantworter verschwinden ließen -, würde früher oder später jemand den Taxifahrer finden, der Sie am Samstagmorgen zum Stagger Inn hinausgebracht hat. Und wenn die Polizei dann zu Ihnen käme, würde sie auf Ihrem Gesicht eine Menge belastender Spuren finden.«
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