Ich weiß, dass du mich von Sheriff Jones zurückholen lassen kannst, aber wenn du das tust, erzähle ich alles. Du denkst vielleicht, dass ich mir die Sache anders überlegen werde, weil ich »nur ein Kind« bin, ABER DAS TU ICH NICHT. Ohne Shan ist mir alles egal. Ich hab dich lieb, Papa, auch wenn ich nicht weiß, wieso, nachdem alles, was wir getan haben, mir nur Ehlend gebracht hat.
Dein dich liebender Sohn
Henry »Hank« James
Ich fuhr wie benommen zur Farm zurück. Ich glaube, einige Leute winkten mir unterwegs zu - sogar Sallie Cotterie, die an ihrem Straßenstrand Gemüse verkaufte, winkte mir zu, glaube ich -, und ich erwiderte ihr Winken vermutlich, aber ich habe keine Erinnerung daran. Zum ersten Mal, seit Sheriff Jones auf die Farm gekommen war und seine freundlichen, keine Antworten erfordernden Fragen gestellt und alles mit seinen kalt forschenden Augen betrachtet hatte, erschien mir der elektrische Stuhl als reale Möglichkeit - so real, dass ich beinahe die Schnallen auf der Haut spüren konnte, während die Lederriemen um meine Handgelenke und Oberarme angezogen wurden.
Ich würde geschnappt werden, ob ich nun den Mund hielt oder nicht. Das erschien mir unvermeidlich. Er hatte kein Geld, nicht mal sechs Dollar, um den Lastwagen vollzutanken, also würde er marschieren müssen, lange bevor er auch nur Elkhorn erreichte. Wenn es ihm glückte, irgendwo Benzin zu stehlen, würde er gefasst werden, sobald er sich dem Heim näherte, in dem sie jetzt lebte (als Gefangene, wie Henry vermutete; sein unreifer Verstand war nie auf den Gedanken gekommen, sie könnte dort freiwillig zu Gast sein). Bestimmt hatte Harlan der Leiterin - Schwester Camilla - Henrys Personenbeschreibung gegeben. Selbst wenn er die Möglichkeit, der empörte Liebhaber könnte aufkreuzen, wo seine Geliebte hinter Schloss und Riegel saß, nie in Betracht gezogen hatte, würde Schwester Camilla daran gedacht haben. In ihrer Tätigkeit hatte sie bestimmt schon so einige Erfahrungen mit empörten Liebhabern gesammelt.
Meine einzige Hoffnung war, dass Henry, wenn er in die Fänge der Justiz geriet, so lange schweigen würde, bis er erkannte, dass er nicht auf meine Veranlassung hin, sondern wegen seiner töricht romantischen Vorstellungen geschnappt worden war. Darauf zu hoffen, dass ein Heranwachsender
Als ich auf den Hof fuhr, schoss mir ein verrückter Gedanke durch den Kopf: den Motor laufen lassen, eine Reisetasche packen und nach Colorado weiterfahren. Diese Idee hielt nur zwei Sekunden lang vor. Ich hatte zwar Geld - nämlich 75 Dollar -, aber der T würde liegenbleiben, lange bevor ich bei Julesburg die Staatsgrenze erreichte. Aber das war nicht das Entscheidende; wäre es das gewesen, hätte ich nach Lincoln fahren und dort den T und 60 meiner Dollar gegen einen zuverlässigeren Wagen eintauschen können. Nein, entscheidend war die Farm. Die Heimstätte. Meine Heimstätte. Ich hatte meine Frau ermordet, um sie zu behalten, und würde sie jetzt nicht verlassen, nur weil mein törichter, unreifer Komplize es sich in den Kopf gesetzt hatte, zu einem romantischen Ritterzug aufzubrechen. Wenn ich die Farm verließ, würde es nicht in Richtung Colorado, sondern ins Staatsgefängnis gehen. Wo man mich in Ketten halten würde.
Das Ganze war am Montag vorgefallen. Weder am Dienstag noch am Mittwoch gab es Neuigkeiten. Sheriff Jones kam nicht, um mir mitzuteilen, Henry sei auf dem Highway von Lincoln nach Omaha als Anhalter aufgegriffen worden, und Harl Cotterie kam nicht, um mir (zweifellos mit puritanischer Befriedigung) zu erzählen, die Polizei in Omaha habe Henry auf Schwester Camillas Ersuchen verhaftet und er sitze jetzt im Knast und erzähle wilde Geschichten von Messern und Brunnen und Rupfensäcken. Auf der Farm blieb alles ruhig. Ich arbeitete im Garten, ich reparierte einen Zaun, ich lud Scheffelkörbe mit Gemüse auf einen Hänger, den der T ziehen konnte, ich molk die Kühe, ich fütterte die Hühner - und tat alles wie benommen. Irgendwie glaubte ich, ziemlich fest sogar, dass alles
Am Donnerstag kam dann Mrs. McReady - die liebenswerte, füllige Witwe, die an der Hemingford School allgemeinbildende Fächer unterrichtete - mit ihrem eigenen Model T vorbei, um zu fragen, ob mit Henry alles in Ordnung sei. »In der Schule macht eine … eine Magenverstimmung die Runde«, sagte sie. »Ich frage mich, ob er sich wohl vielleicht angesteckt hat. Er ist ganz plötzlich hinausgestürmt.«
»Er leidet tatsächlich«, sagte ich, »aber er ist liebeskrank statt magenkrank. Er ist weggelaufen, Mrs. McReady.«
Unerwartete Tränen, brennend und heiß, stiegen mir in die Augen. Ich zog mein Taschentuch aus der Brusttasche meiner Latzhose, aber ein paar liefen mir übers Gesicht, bevor ich sie wegwischen konnte.
Als ich wieder klar sehen konnte, erkannte ich, dass Mrs. McReady, die es mit allen Kindern - auch den schwierigen - gut meinte, selbst den Tränen nahe war. Sie musste geahnt haben, worunter Henry wirklich litt.
»Keine Angst, er kommt wieder, Mr. James. Ich habe so was schon mehrfach erlebt und rechne damit, es noch ein-, zweimal zu erleben, bevor ich pensioniert werde, obwohl dieser Zeitpunkt nicht mehr so fern ist, wie er früher war.« Sie senkte die Stimme, als befürchtete sie, George der Gockel oder jemand in seinem gefiederten Harem könnte ein Spion sein. »In Acht nehmen sollten Sie sich vor ihrem Vater. Er ist ein harter, unbeugsamer Mensch. Kein schlechter Mensch, aber hart.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Und ich vermute mal, dass Sie wissen, wo seine Tochter jetzt ist.«
Sie senkte den Blick. Das war Antwort genug.
»Danke, dass Sie herausgekommen sind, Mrs. McReady. Darf ich Sie bitten, das alles für sich zu behalten?«
»Ja, natürlich … aber die Kinder tuscheln schon. Seien Sie also gewarnt.«
Ja. Natürlich taten sie das.
»Haben Sie einen Telephonapparat, Mr. James?« Sie sah sich nach einer Leitung um. »Wie ich sehe, haben Sie keinen. Macht nichts. Wenn ich etwas höre, komme ich vorbei und sage es Ihnen.«
»Wenn Sie irgendwas früher als Harlan Cotterie oder Sheriff Jones hören, meinen Sie.«
»Gott wird für Ihren Sohn sorgen. Auch für Shannon. Was waren die beiden doch für ein reizendes Paar; das haben alle gesagt. Manchmal reift die Frucht zu früh, und ein Frost lässt sie welken. Wirklich ein Jammer. Traurig und jammerschade.«
Sie schüttelte mir die Hand - mit einem kräftigen Druck wie dem eines Mannes -, und fuhr dann mit ihrem billigen kleinen Auto davon. Ich glaube nicht, dass ihr bewusst gewesen war, dass sie von Shannon und meinem Sohn zuletzt in der Vergangenheitsform gesprochen hatte.
Am Freitag kam Sheriff Jones in seinem Maxwell mit dem goldenen Stern auf der Tür heraus. Und er war nicht allein. Hinter ihm fuhr mein Lastwagen her. Bei diesem Anblick schlug mein Herz höher, sank aber sofort wieder, als ich sah, wer am Steuer saß: Lars Olsen.
Ich bemühte mich, ruhig zu warten, während Jones sein Ankunftsritual zelebrierte: Gürtel ruckartig hochziehen, Stirn abwischen (obwohl der Tag kühl und bewölkt war), sich übers Haar fahren. Aber ich schaffte es nicht. »Alles in Ordnung mit ihm? Haben Sie ihn gefunden?«
»Nein, können wir leider nicht behaupten.« Er kam die Verandatreppe herauf. »Ein Störungssucher für die Überlandleitungen
»Ich habe gehofft, er würde von selbst zurückkommen«, sagte ich bedrückt. »Er ist nach Omaha unterwegs. Ich weiß nicht, wie viel ich Ihnen erzählen muss, Sheriff …«
Lars Olsen, der interessiert die Ohren spitzte, war unauffällig auf Hörweite herangeschlendert. »Gehen Sie schon mal zu meinem Wagen, Olsen«, sagte Jones. »Das hier ist ein Privatgespräch.«
Lars, eine sanftmütige Seele, huschte davon, ohne Einwände zu erheben. Jones wandte sich wieder an mich. Er war weit weniger freundlich als beim ersten Besuch und hatte auch alle scheinbare Unbeholfenheit abgelegt.
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