»Vielleicht hat er's ja nur vermutet und einen Glückstref-fer gelandet«, sagte Tom auf Englisch.
In der Ferne fiel ein Schuss und warf sein Echo durch den Urwald. Dann noch einer. Er rollte wie Donner, da der Dschungel ihn auf eigenartige Weise verzerrte. Es dauerte lange, bis das Echo verhallte. Die Auswirkungen des Geräusches auf Marisol waren schrecklich. Sie wurde bleich, zitterte und wankte. Aber sie sagte nichts und rührte sich nicht von der Stelle. Tom empfand Bestürzung. War jemand erschossen worden?
»Die erschießen doch da niemanden?«, fragte er.
»Ich weiß nicht.«
Tom sah, dass Marisols Augen sich mit Tränen füllten.
Doch sie verriet kein Gefühl.
Sally tastete nach Toms Hand. »Vielleicht erschießen sie jemanden, weil sie uns nicht finden können. Vielleicht sollten wir uns stellen.«
»Nein«, sagte Marisol jäh. »Vielleicht schießen sie nur in die Luft. Wir können jetzt nur abwarten.« Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.
»Wir hätten nie hier anhalten sollen«, sagte Sally und wechselte wieder ins Englische. »Wir haben kein Recht, diese Leute in Gefahr zu bringen. Tom, wir müssen ins Dorf zurück und uns den Soldaten stellen.«
»Sie haben Recht.« Tom wandte sich zum Gehen.
»Wenn Sie zurückkehren, werden sie uns erschießen«, sagte Marisol. »Gegen die Soldaten sind wir machtlos.«
»Damit kommen sie nicht ungestraft durch«, sagte Sally mit bebender Stimme. »Ich melde es der amerikanischen Botschaft. Die Soldaten werden ihrer Strafe nicht entgegen.«
Marisol schwieg. Sie stand nun wieder still da, wie ein Reh, und zitterte kaum merklich. Aber sie weinte nicht mehr.
Lewis Skiba blieb allein in seinem Büro zurück. Es war zwar noch früh am Nachmittag, aber er hatte alle nach Hause geschickt, damit sie der Presse nicht in die Hände liefen. Er hatte das Bürotelefon ausgestöpselt und die beiden Außentüren zugemacht. Während die Firma sich rings um ihn auflöste, war er in einen Kokon des Schweigens gehüllt, verpackt in das goldene Leuchten der Marke Eigen-bau.
Die Securities and Exchange Commission hatte nicht einmal bis zum Börsenschluss gewartet, um bekannt zu geben, dass sie die Ermittlungen hinsichtlich der
Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung von Lampe-Denison Pharmaceuticals aufgenommen hatte. Die Bekanntmachung hatte sich wie ein Paukenschlag auf die Aktie ausgewirkt. Nun stand Lampe bei sieben ein Viertel und fiel weiter. Das Unternehmen war wie ein im Sterben liegender Wal - gelähmt, sich suhlend, von einem ekstatischen, geistlosen Schwarm von Haien umgeben: Leerverkäufern, die ihn stückweise zerfetzten. Es war ein primitiver darwinistischer Fressrausch. Und jeder Dollar, den sie aus dem Aktienpreis herausbissen, riss ein Hundert-Millionen-Dollar-Loch in Lampes Marktkapitel.
Skiba war hilflos.
Die Firmenanwälte hatten ihre Pflicht getan. Sie hatten die übliche Meldung herausgegeben, dass die Behauptungen
»haltlos« seien und Lampe bereitwillig kooperieren würde, um seinen Namen sauber zu halten. Graff, der Finanzchef, hatte seine Rolle gespielt und verlautbaren lassen, Lampe sei gewissenhaft den allgemein akzeptierten Buchhaltungs-prinzipien gefolgt. Lampes Buchprüfer hatten Entsetzen und Abscheu ausgedrückt und erklärt, sie hätten sich auf Lampes Finanzverlautbarungen und Bekenntnisse verlassen. Falls es irgendwelche Unregelmäßigkeiten gäbe, seien sie ebenso gründlich getäuscht worden wie alle anderen auch. Jede Börsenschwafelei, die Skiba von anderen schrägen Firmen und ihren Legionen von Bevollmächtigten kannte, war aufs Tapet gekommen. Alles klang so gestelzt und vorprogrammiert wie ein japanisches Kabuki-Drama.
Außer ihm hatten sich alle ans Drehbuch gehalten. Nun wollten alle etwas von ihm hören, dem großen und schrecklichen Skiba. Sie wollten den Vorhang wieder aufreißen.
Alle wollten einen Blick auf den Scharlatan werfen, der an den Kontrollknöpfen saß.
Aber so würde es nicht laufen. Jedenfalls nicht, solange er noch atmen konnte. Sollten sie doch daherplappern und Häme verbreiten. Er würde schweigen. Und wenn dann der Codex eintraf und der Wert ihrer Aktie sich verdoppelte, verdreifachte, vervierfachte ...
Skiba schaute auf seine Armbanduhr. Noch zwei Minuten.
Wenn man davon absah, dass der Verschlüssler Hausers Stimme wie Donald Duck klingen ließ, war die Satelliten-verbindung so deutlich, als riefe er aus dem Nebenraum an.
Trotzdem waren Hausers großkotziges Gehabe und seine unverschämte Vertrautheit unüberhörbar.
»Wie geht's Ihnen, Lewis?«, fragte er.
Skiba ließ einen frostigen Moment verstreichen, bevor er antwortete: »Wann kriege ich den Codex?«
»Also, Skiba, die Lage ist folgende: Vernon, der mittlere der Brüder, hat sich, wie ich's vorhergesehen habe, in den Sümpfen verirrt, dieser Arsch, und wird möglicherweise bald seinen Abschied einreichen. Tom, der jüngste ...«
»Ich habe mich nicht nach den Brüdern erkundigt, sondern nach dem Codex. Die Brüder sind mir gleichgültig.«
»Sie dürften Ihnen aber nicht gleichgültig sein. Sie kennen doch den Spielstand. Na ja, ich wollte gerade sagen, dass es Tom gelungen ist, ein paar Soldaten zu entkommen, die ich ihm auf den Hals gehetzt hatte. Sie verfolgen ihn jetzt flussaufwärts. Vielleicht erwischen sie ihn, bevor er das Sumpfgebiet erreicht, aber es hat sich ja nun erwiesen, dass er findiger ist, als ich dachte. Wenn er aufgehalten werden muss, wäre das andere Ende des Sumpfes der ungünstigste Ort dafür. Ich kann nicht riskieren, seine und die Fährte der Frau in den Bergen zu verlieren, die danach kommen. Können Sie mir folgen?«
Skiba drehte die hochnäsige Quäkstimme leiser. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er je einen Menschen so gehasst hatte wie in diesem Moment Hauser.
»Das zweite Problem ist Philip, der älteste Sohn. Ich werde mich irgendwann seiner annehmen müssen. Ich brauche ihn noch eine Weile, aber wenn er seine Schuldigkeit getan hat, tja, dann können wir nicht zulassen, dass er plötzlich den Hals reckt - haben Sie das eigentlich gesagt oder ich? -
und behauptet, er sei der Eigentümer des Codex. Das Glei-
che gilt für Vernon und Tom. Und auch für die Frau, mit der Tom unterwegs ist - Sally Colorado.«
Ein langes Schweigen entstand.
»Sie verstehen doch wohl, was ich sage, oder?«
Skiba wartete ab. Er versuchte sich zu beherrschen. Diese Gespräche waren eine unglaubliche Zeitverschwendung.
Und nicht nur das: Sie waren auch gefährlich.
»Sind Sie noch da, Lewis?«
»Warum erledigen Sie nicht einfach Ihren Auftrag?«, sagte Skiba wütend. »Was sollen diese Anrufe? Sie haben den Auftrag, mir den Codex zu liefern. Wie Sie es tun, ist Ihre Sache, Hauser.«
Hausers Kichern schwoll zu einem Lachen an. »Ach, das ist ja reizend. Doch so leicht kommen Sie mir nicht davon.
Sie haben von Anfang an gewusst, was passieren wird. Sie haben gehofft, dass ich die Sache allein regle. So läuft es aber nicht. Ich räume Ihnen keine Chance ein, in dieser Hinsicht irgendetwas abzustreiten. Wenn da was schief geht, werden Sie nicht das Fußvolk abservieren und einen Kuhhandel mit der Justiz machen. Wenn die Zeit reif ist, werden Sie mir sagen, dass ich sie umlegen soll. So läuft das und nicht anders. Und das wissen Sie genau.«
»Hören Sie sofort mit diesem Gerede auf. Es wird niemand ums Leben kommen.«
»Ach, Lewis, Lewis ...«
Skiba wurde schlecht. Er spürte, dass die Übelkeit sich wellenförmig in seinem Magen ausbreitete. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Aktie schon wieder sank. Die SEC hatte den Wertpapierhandel nicht nur zum Stillstand gebracht, sie hatte das Unternehmen auch in den Wind gedrängt. Zwanzigtausend Angestellte waren von Skiba abhängig; Millionen Kranke brauchten seine Medikamente; er hatte Frau und Kinder, ein Haus, zwei Millionen eigene Optionen und sechs Millionen Anteile ...
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