»Aber Sie sind doch der Häuptling.«
»Häuptling? Pah!«
»Es wird eine sehr lange Reise werden«, meinte Tom.
»Das ist doch nichts für einen Mann Ihres Alters.«
»Ich bin noch immer so stark wie ein Tapir! Ich bin jung genug, um noch mal zu heiraten. Offen gesagt, ich brauche dringend eine Sechzehnjährige, die den leeren Platz in meiner Hängematte einnimmt und mich jeden Abend mit leisen Seufzern und Küssen in den Schlaf bumst ...«
»Don Alfonso ...«
»Ich brauche eine Sechzehnjährige, die mich scharf macht und mir die Zunge ins Ohr schiebt, damit ich morgens mit den Vögeln aufstehe. Sie brauchen sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen: Ich, Don Alfonso Boswas, werde Sie durch den Meambar-Sumpf führen.«
»Nein«, sagte Tom so entschlossen, wie er nur konnte.
»Das werden Sie nicht tun. Wir brauchen einen jüngeren Führer.«
»Es ist unvermeidlich. Ich habe geträumt, dass Sie kommen und dass ich mit Ihnen gehe. Es ist so beschlossen. Ich spreche Englisch und Spanisch, aber Spanisch ist mir lieber.
Ich habe Angst vor dem Englischen. Die Sprache klingt so, als würde jemand erwürgt.«
Tom schaute Sally wütend an. Der Greis war unmöglich.
In diesem Moment kehrte Marisol mit ihrer Mutter zurück. Beide trugen mit Palmwedeln belegte Schneidebretter aus Holz, auf denen frische heiße Tortillas, gebratene Bananen, geröstetes Fleisch, Nüsse und frisches Obst lagen.
Tom war noch nie im Leben so hungrig gewesen. Er und Sally fingen gleich an zu schlemmen, wobei Don Alfonso ihnen half und Marisol und ihre Mutter in zufriedenem Schweigen zuschauten. Während des Essens erstarb das Gespräch. Als Tom und Sally fertig waren, nahm die Frau schweigend die Teller an sich, füllte sie erneut, und dann noch ein drittes Mal.
Als sie satt waren, lehnte Don Alfonso sich zurück und wischte sich den Mund ab.
»Hören Sie«, sagte Tom so amtlich wie möglich. »Ob Sie es nun geträumt haben oder nicht, Sie kommen nicht mit. Wir brauchen einen jüngeren Mann.«
»Oder eine Frau«, sagte Sally.
»Ich nehme zwei junge Männer mit: Chori und Pingo. Ich bin außer Don Orlando der Einzige, der den Weg durch den Meambar-Sumpf kennt. Ohne Führer werden Sie sterben.«
»Ich muss Ihr Angebot ablehnen, Don Alfonso.«
»Sie haben nicht mehr viel Zeit. Die Soldaten sind hinter Ihnen her.«
»Sie waren hier?«, fragte Tom erschrocken.
»Sie waren heute Morgen da. Und sie kommen zurück.«
Tom schaute Sally an, dann wandte er sich wieder Don Alfonso zu. »Wir haben nichts Schlimmes getan. Ich kann Ihnen erklären ...«
»Sie brauchen nichts zu erklären. Die Soldaten sind böse.
Wir müssen sofort Maßnahmen ergreifen. - Marisol?«
»Ja, Großvater?«
»Wir brauchen Planen, Zündhölzer, Benzin, Zweitakter-Maschinenöl, Werkzeug, eine Bratpfanne, einen Kochtopf, Bestecke und Feldflaschen.« Er ratterte eine ganze Liste von Gegenständen herunter.
»Haben Sie Medikamente?«, fragte Tom.
»Dank der Missionare haben wir viele nordamerikanische Medikamente. Wir haben Jesus eifrig beklatscht, um an sie heranzukommen. - Marisol, sag den Leuten, sie sollen uns die Sachen zu einem angemessenen Preis verkaufen.«
Marisol eilte hinaus. Ihre Zöpfe flogen. Kaum zehn Minuten später kehrte sie zurück und führte eine Gruppe alter Männer, Frauen und Kinder an, die alle irgendetwas dabei-hatten. Don Alfonso blieb in der Hütte. Niedere Tätigkeiten wie Handel waren unter seiner Würde. Marisol hielt die Menge in Schach.
»Kauft, was ihr wollt, und sagt den anderen, sie sollen gehen«, empfahl Marisol. »Sie werden euch den Preis nennen.
Feilscht nicht herum; das ist bei uns nicht üblich. Sagt nur Ja oder Nein. Die Preise sind angemessen.«
Sie sprach laut auf die zerlumpten Menschen ein, die sich in einer Linie aufbauten und sich reckten.
»Die wird mal hier Häuptling werden«, sagte Tom auf Englisch zu Sally, als sein Blick auf die ordentlich ausge-richtete Warteschlange fiel.
»Ist sie jetzt schon.«
»Wir sind so weit«, erklärte Marisol. Sie deutete auf den ersten Mann in der Reihe. Er trat vor und hielt ihnen fünf alte Jutesäcke hin.
»Vierhundert«, sagte Marisol.
»Dollar?!«
»Lempiras.«
»Wie viele Dollar sind das?«, fragte Tom.
»Zwei.«
»Wir nehmen sie.«
Der nächste Mann trat mit einem großen Sack Bohnen, einem Sack losem trockenem Getreide und einem unbeschreiblich zerbeulten Aluminiumtopf mit Deckel vor. Der ursprüngliche Griff fehlte, doch an seiner Stelle befand sich ein wunderschön geschnitzter und eingeölter Ersatz aus Hartholz. »Einen Dollar.«
»Wir nehmen alles.«
Der Mann legte die Gegenstände ab und zog sich zurück.
Dann trat der nächste vor und bot ihnen zwei T-Shirts, zwei schmutzige Shorts, eine Trucker-Mütze und ein nagelneues Paar Turnschuhe der Marke Nike an.
»Na, endlich hab ich was zum Wechseln«, meinte Tom. Er schaute sich die Schuhe an. »Zufällig ist das sogar meine Größe. Das muss man sich mal vorstellen: Da findet man ausgerechnet hier ein nagelneues Paar Air Jordans.«
»Die werden hier hergestellt«, erklärte Sally. »Haben Sie den Schwitzbuden-Skandal schon vergessen?«
»Keineswegs.«
Die Warenprozession ging weiter: Kunststoffplanen, Säk-ke mit Bohnen und Reis, getrocknetes und geräuchertes Fleisch, über das Tom sich Fragen zu stellen verbiss; Bananen, ein 150-Liter-Benzinfass, eine Tüte Salz. Eine ganze Reihe von Leuten war mit Dosen eines besonders starken, vorzüglichen Insektenabwehrmittels aufgetaucht, das Tom höflich ablehnte.
Plötzlich verstummte die Menge. Tom hörte in der Ferne das Summen eines Außenbordmotors. Marisol ergriff sofort das Wort: »Kommen Sie mit in den Wald. Schnell!«
Die Menge löste sich rasch auf. Im Dorf wurde es still, es wirkte wieder wie ausgestorben. Marisol ging ihnen ruhig in den Wald voraus, wobei sie einem fast unsichtbaren Pfad folgte. Zwischen den Bäumen waberte zwielichtiger Dunst dahin. Rings um sie her war überall Sumpf, doch der Pfad schlängelte sich hier und da entlang und blieb stets auf festem Boden. Hinter ihnen verstummten die Geräusche aus dem Dorf, dann hüllte der Schutz des Waldes sie ein. Nach einer zehn Minuten langen Wanderung blieb Marisol stehen.
»Wir warten hier.«
»Wie lange?«
»Bis die Soldaten weg sind.«
»Was ist mit unserem Boot?«, fragte Sally. »Werden sie es nicht erkennen?«
»Wir haben Ihr Boot schon versteckt.«
»Das war eine gute Idee. Danke.«
»Gern geschehen.« Das selbstbewusste Mädchen richtete den Blick seiner dunklen Augen wieder auf den Pfad und wartete so reglos und still wie ein Reh.
»In welche Schule gehst du?«, fragte Sally kurz darauf.
»In die der Baptisten. Sie liegt flussabwärts.«
»Eine Missionsschule?«
»Ja.«
»Bist du Christin?«
»Aber ja«, sagte Marisol und schaute Sally mit einem erns-ten Blick an. »Sie nicht?«
Sally errötete. »Nun ... ähm ... Meine Eltern waren Christen.«
»Das ist gut«, sagte Marisol lächelnd. »Würde mir nicht gefallen, wenn Sie in die Hölle kämen.«
»Tja«, sagte Tom in die unbehagliche Stille hinein. »Marisol, ich würde gern wissen, ob es außer Don Alfonso noch jemanden im Dorf gibt, der den Weg durch den Meambar-Sumpf kennt.«
Marisol schüttelte ernst den Kopf. »Er ist der Einzige.«
»Ist der Sumpf schwierig zu durchqueren?«
»Und wie.«
»Warum ist er so sehr darauf aus, uns zu führen?«
Marisol schüttelte nur den Kopf. »Das weiß ich nicht. Er hat Träume und Visionen, und davon hat er auch geträumt.«
»Er hat wirklich geträumt, dass wir kommen?«
»Aber ja. Als der erste Weiße kam, hat er gesagt, bald kämen auch seine Söhne. Und jetzt sind Sie da.«
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