Tom musterte den Mann überrascht, dann drehte er sich um und suchte nach Marisol. Sie stand im Türrahmen und unterdrückte ein Grinsen.
Der Greis legte die Machete hin und lachte. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich bin Don Alfonso Boswas. Setzen Sie sich. Ich bin nur ein alter Mann, der gern Witze erzählt.
Ich habe zwanzig Enkel und sechzig Urenkel, aber die kommen nie vorbei, um mich zu besuchen. Also muss ich den Fremden Witze erzählen.« Er sprach ein eigenartig gesto-chenes und altmodisches Spanisch.
Tom und Sally zogen sich zwei wacklige Hocker heran.
»Ich bin Tom Broadbent«, sagte Tom. »Und das ist Sally Colorado.«
Der Greis stand auf, verbeugte sich vornehm und setzte sich wieder hin.
»Wir suchen einen Führer. Wir wollen den Fluss hinauf.«
»Hm«, machte Don Alfonso. »Urplötzlich sind alle Yanquis verrückt darauf, flussaufwärts zu fahren und sich im Meambar-Sumpf zu verlaufen, wo sie von Anakondas gefressen werden. Warum?«
Tom zögerte. Die unerwartete Frage verblüffte ihn.
»Wir wollen seinen Vater finden«, sagte Sally. »Maxwell Broadbent. Er ist vor etwa einem Monat mit einer Gruppe von Indianern mit Einbäumen hier durchgekommen. Sie hatten vermutlich viele Kisten bei sich.«
Der Greis schaute Tom aus zusammengekniffenen Augen an. »Kommen Sie her, mein Junge.« Er streckte seine leder-artige Hand aus, packte Toms Arm mit einem schraub-stockähnlichen Griff und zog ihn an sich. Er musterte ihn eingehend, wobei die Brillengläser seine Augen grotesk vergrößerten.
Tom hatte das Gefühl, der Greis blicke in seine Seele.
Nachdem Don Alfonso ihn eine Weile begutachtet hatte, ließ er ihn los. »Ich sehe, dass Sie und Ihre Gattin hungrig sind. - Marisol!« Er sagte etwas in der Sprache der Indianer.
Marisol verschwand. Don Alfonso wandte sich wieder Tom zu. »Dann war das also Ihr Vater, der hier vorbeigekommen ist, was? Sie sehen eigentlich gar nicht verrückt aus.
Normalerweise ist nämlich ein Junge, der einen verrückten Vater hat, ebenfalls verrückt.«
»Meine Mutter war normal«, erklärte Tom.
Don Alfonso lachte brüllend und schlug sich aufs Knie.
»Das ist gut! Sie sind also auch ein Witzbold. Ja, sie haben hier angehalten, um Proviant zu kaufen. Der Weiße war wie ein Bär. Seine Stimme trug fast einen Kilometer weit.
Ich habe ihm gesagt, dass es verrückt ist, sich in den Meambar-Sumpf zu wagen, aber er hat nicht auf mich gehört. Er muss in Amerika ein großer Häuptling sein. Wir haben einen lustigen Abend miteinander verbracht und viel gelacht. Dann hat er mir das hier geschenkt.«
Er griff hinüber, wo einige zusammengefaltete Jutesäcke lagen, kramte mit den Händen darin herum und hielt Tom und Sally dann etwas hin. Die Sonne beleuchtete den Gegenstand. Er glitzerte in der Farbe von Taubenblut. Ein vollkommener Stern erstrahlte in ihm. Don Alfonso legte Tom den Gegenstand in die Hand.
»Ein Sternrubin«, keuchte Tom. Es war ein Edelstein aus der Sammlung seines Vaters. Er war ein kleines, wenn nicht gar ein großes Vermögen wert. Tom empfand plötzlich einen Ansturm von Gefühlen: Es war typisch für seinen Vater, jemanden zu beschenken, den er gut leiden konnte.
Einst hatte er einem Bettler fünftausend Dollar geschenkt, weil dieser ihn mit einer witzigen Bemerkung erheitert hatte.
»Ja, ein Rubin. Er wird es meinen Enkeln ermöglichen, nach Amerika auszuwandern.« Don Alfonso versteckte den Stein sorgfältig wieder zwischen den schmutzigen Jutesäk-ken. »Warum macht Ihr Vater so etwas? Als ich es aus ihm rauskriegen wollte, war er so ausweichend wie ein Coati.«
Tom warf Sally einen kurzen Blick zu. Wie sollte er es nur erklären? »Wir wollen ihn finden. Er ist ... krank.«
Bei diesen Worten riss Don Alfonso die Augen auf. Er nahm die Brille ab, polierte sie mit einem schmutzigen Lumpen und setzte sie schmutziger als zuvor wieder auf.
»Krank? Ist es etwas Ansteckendes?«
»Nein. Er ist, wie man in Ihrer Sprache sagt, ein bisschen loco, mehr nicht. Es geht um ein Spiel, das er mit seinen Söhnen spielt.«
Don Alfonso dachte eine Weile nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe Yanquis viele eigenartige Dinge tun sehen, aber dies hier ist mehr als eigenartig. Ich habe das Gefühl, dass Sie mir etwas verschweigen. Doch wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir alles erzählen.«
Tom seufzte und schaute Sally an. Sie nickte. »Er hat nicht mehr lange zu leben. Er ist mit seinem gesamten Besitz flussaufwärts gefahren, um sich bestatten zu lassen. Und er hat uns die Aufgabe gestellt, sein Grab zu finden, wenn wir unser Erbe haben wollen.«
Don Alfonso nickte, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. »Ja, ja, so etwas haben wir Tawahka-Indianer früher auch gemacht. Wir haben uns mit unserem Besitz bestatten lassen und unsere Söhne verärgert. Aber dann kamen die Missionare und haben uns erklärt, dass Jesus uns im Himmel neue Dinge schenkt und wir die Toten ohne Beigaben bestatten sollen. Also haben wir den Brauch aufgegeben.
Aber ich glaube, dass die alte Methode besser war. Außerdem weiß ich nicht genau, ob Jesus wirklich alles für die Verstorbenen hat. Die Bilder, die ich von ihm gesehen habe, zeigen einen armen Mann ohne Kochtöpfe, Schweine, Hühner und Schuhe. Er hatte nicht einmal eine Ehefrau.«
Don Alfonso zog laut die Nase hoch. »Aber vielleicht ist es auch besser, wenn man seinen Besitz mit ins Grab nimmt, weil sich die Söhne dann nicht darum streiten. Sie streiten sich doch schon darum, wenn man noch lebt. Deswegen habe ich alles, was mir gehört, meinen Söhnen und Töchtern geschenkt und lebe wie ein armer Hund. Es ist respek-tabel, so zu leben. Nun haben meine Söhne keinen Grund, sich um etwas zu streiten und ... Was noch wichtiger ist: Sie wollen gar nicht, dass ich sterbe.«
Er beendete seine Rede und klemmte sich die Pfeife wieder zwischen die Zähne.
»Sind noch andere Weiße hier vorbeigekommen?«, fragte Sally.
»Vor zehn Tagen haben zwei Einbäume mit vier Männern hier Rast gemacht. Es waren zwei Weiße und zwei Bergindianer. Ich dachte, der Jüngere könnte vielleicht Jesus Christus sein, aber in der Missionsschule habe ich erfahren, dass er nur ein Hippie ist. Sie sind einen Tag geblieben und dann weitergefahren. Dann sind vor einer Woche vier Einbäume mit Soldaten und zwei Gringos hier angekommen. Sie haben Don Orlando als Führer eingestellt und sind weitergezogen. Deswegen frage ich mich, warum plötzlich all diese verrückten Yanquis in den Meambar-Sumpf wollen. Suchen sie alle nach dem Grab Ihres Vaters?«
»Ja. Es sind meine beiden Brüder.«
»Warum suchen Sie nicht zusammen?«
Tom antwortete nicht.
»Sie haben die Bergindianer erwähnt«, sagte Sally, »die mit dem ersten Weißen hier waren. Wissen Sie, woher sie kamen?«
»Es waren nackte Wilde aus dem Hochland, die sich rot und schwarz anmalen. Sie sind keine Christen. Wir hier in Pito Solo sind ein bisschen christlich. Nicht sehr, aber es reicht, um als Christen durchzugehen, wenn die Missionare mit ihrem nordamerikanischen Essen und den Medikamen-
ten da sind. Dann singen und klatschen wir für Jesus. So bin ich zu meiner neuen Brille gekommen.« Don Alfonso nahm sie ab und hielt sie Tom hin, damit er sie begutachten konnte.
»Don Alfonso«, sagte Tom, »wir brauchen einen Führer, der uns flussaufwärts bringen kann. Außerdem brauchen wir Proviant und Ausrüstung. Können Sie uns helfen?«
Don Alfonso stieß ein Rauchwölkchen aus, dann nickte er.
»Ich bringe Sie hin.«
»Oh, nein«, sagte Tom und schaute den schwachen Greis erschrocken an. »Darum habe ich nicht gebeten. Wir können Sie doch nicht aus dem Dorf entführen, wo man Sie braucht.«
»Mich soll jemand brauchen? Hier würden sich alle freuen, wenn sie den alten Don Alfonso endlich los wären!«
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