Als die Arbeiter und Reiter zurückkehrten, kam der Wesir ihnen mit dem Heer des Khans entgegen und ließ sie bis auf den letzten Mann niedermachen.«
»Wie scheußlich.«
»Danach beging der Wesir Selbstmord.«
»Was für ein Blödmann. Er hätte reich werden können.«
Hauser kicherte. »Ja. Aber er war seinem Herrn treu ergeben. Er wusste, dass man sogar ihm, dem vertrauenswür-digsten aller Menschen, ein solches Geheimnis nicht anver-trauen konnte. Vielleicht hätte er im Schlaf gesprochen.
Vielleicht hätte man es ihm unter der Folter abgepresst.
Auch hätte seine Gier ihn überwältigen können. Er war das schwache Glied in der Kette. Deswegen musste auch er sterben.«
Philip hörte ein Hacken, und als er den Blick hob, sah er, wie die Jäger die Beute mit Macheten zerlegten. Die Innereien klatschten mit einem feuchten Schmatzen auf den Boden. Philip zuckte zusammen und wandte sich ab. Irgendwie, wurde ihm bewusst, hatte das Vegetariertum doch etwas für sich.
»Und hier haben wir den Haken, die Schwäche im Plan des Wesirs: Auch ein Mann wie Dschingis Khan musste sich hinsichtlich seines Geheimnisses letztlich auf einen anderen Menschen verlassen.« Hauser stieß eine beißende Rauchwolke aus. »Und deswegen frage ich Sie, Philip: Wer ist der einzige Mensch, dem Ihr Vater vertraut hat?«
Es war eine gute Frage. Philip dachte schon seit geraumer Zeit darüber nach. »Es war keine Freundin oder Ex-Frau.
Über seine Ärzte und Anwälte hat er pausenlos nur gelä-stert. Seine Sekretärinnen haben immer von sich aus gekündigt. Er hatte keine echten Freunde. Der einzige Mensch, dem er vertraute, war sein Pilot.«
»Und ich habe bereits in Erfahrung gebracht, dass er nichts über die Sache weiß.« Hauser hielt die Zigarre in einem steilen Winkel an seine Lippen. »Genau da liegt der Haken, Philip. Hat Ihr Vater vielleicht ein Doppelleben geführt? Hatte er ein heimliches Verhältnis? Hat er möglicherweise einen unehelichen Sohn, den er Ihnen und Ihren Brüdern vorgezogen hat?«
Allein die Andeutung ließ Philip frösteln. »Ich habe keine Ahnung.«
Hauser schwenkte die Zigarre. »Das stimmt einen nachdenklich, was, Philip?«
Er verfiel in Schweigen. Die Vertraulichkeit ermutigte Philip, eine Frage zu stellen, die ihm schon seit geraumer Zeit am Herzen lag. »Was ist zwischen meinem Vater und Ihnen vorgefallen?«
»Wussten Sie, dass wir schon in unserer Kindheit befreun-
det waren?«
»Ja.«
»Wir sind zusammen in Erie aufgewachsen. In der Straße, in der wir lebten, haben wir Stickball miteinander gespielt.
Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren gemeinsam das erste Mal in einem Puff. Wir glaubten, wir würden uns sehr gut kennen. Doch wenn man in den Dschungel vorstößt, wenn's ums Überleben geht, erfährt man noch ein paar andere Dinge über sich. Dann entdeckt man an sich selbst Sachen, von denen man nie etwas geahnt hat. Man erfährt, wer man wirklich ist. Und genau das ist uns passiert. Wir saßen mitten im Dschungel fest, hatten uns verirrt, waren von Insekten zerstochen, hatten nichts zu essen und waren halb tot vor Fieber. Und da haben wir festgestellt, wer wir wirklich sind. Wissen Sie, was ich entdeckt habe? Ich habe entdeckt, dass ich Ihren Vater verachte.«
Philip schaute Hauser an. Der Mann wich seinem Blick nicht aus. Sein Gesicht war ruhig, glatt und undurchdringlich wie immer. Er spürte, dass es ihm kalt über den Rücken lief. »Und was haben Sie über sich selbst erfahren, Hauser?«, fragte er.
Er sah, dass die Frage sein Gegenüber verblüffte. Hauser überging sie mit einem Lachen. Dann warf er den Zigarrenstummel ins Feuer und stand auf. »Das kriegen Sie noch früh genug raus.«
Der Einbaum schob sich durch das dicke schwarze Wasser.
Der Motor heulte angestrengt. Der Fluss hatte sich geteilt und war zu einem Labyrinth aus Seitenarmen und riesigen stillen Teichen voll von offen liegendem, schwarzem, stin-kendem, schauerlich aussehendem Schlamm geworden.
Wohin Tom auch blickte, sah er wirbelnde Insektenschwärme. Pingo stand mit freiem Oberkörper am Bug und schwenkte eine riesige Machete, mit der er hin und wieder auf Schlingpflanzen einhieb, die übers Wasser hingen. Die Seitenarme waren oft zu seicht, um den Motor zum Einsatz zu bringen. In solchen Fällen holte Chori ihn ein und stakte.
Don Alfonso blieb auf seinem üblichen Platz, dem von einer Leinwandplane bedeckten Ausrüstungsstapel. Er saß mit verschränkten Beinen da, mimte den Weisen, paffte hektisch seine Pfeife und lugte nach vorn. Pingo war schon mehrmals von Bord gegangen, um halb versunkene Baumstämme zu zerlegen, damit sie weiterfahren konnten.
»Was sind das für teuflische Insekten?«, rief Sally und schlug wild um sich.
»Tapirfliegen«, sagte Don Alfonso. Er griff in die Tasche und hielt ihr eine geschwärzte Maiskolbenpfeife hin. »Sie sollten vielleicht mit dem Rauchen anfangen, Señorita; das ist den Insekten lästig.«
»Nein, danke. Rauchen erzeugt Krebs.«
»Ganz im Gegenteil. Rauchen ist sehr gesund. Es führt zu einer guten Verdauung und einem langen Leben.«
»Schön.«
Als sie tiefer in den Sumpf vorstießen, schien sich die Vegetation von allen Seiten an sie zu drängen und bildete mauerartige Schichten aus glänzenden Blättern, Farnen und Schlingpflanzen. Die Luft war tot und dick und roch nach Methan. Das Boot schob sich wie durch heiße Suppe voran.
»Woher wissen Sie, dass dies der Weg ist, den mein Vater genommen hat?«, fragte Tom.
»Im Meambar-Sumpf gibt es viele Pfade«, sagte Don Alfonso, »aber nur einen, der hindurchführt. Ich, Don Alfonso, kenne diesen Weg, und Ihr Vater hat ihn auch gekannt.
Ich kann die Zeichen lesen.«
»Und was besagen sie?«
»Dass drei Reisegruppen vor uns sind. Die erste kam vor einem Monat hier durch. Die zweite und die dritte sind nur wenige Tage voneinander getrennt. Sie waren vor etwa einer Woche hier.«
»Woran können Sie das alles erkennen?«, fragte Sally.
»Ich lese es im Wasser. Ich sehe eine Kerbe an einem versunkenen Baumstamm. Ich sehe einen Schnitt in einer Schlingpflanze. Ich sehe eine Stakenmarkierung auf einer Unterwassersandbank oder eine Rinne, die ein Kiel an einer seichten schlammigen Stelle hinterlassen hat. In diesem toten Wasser erhalten sich Markierungen dieser Art wochenlang. «
Sally deutete auf einen Baum. »Schauen Sie mal, da drüben steht ein Gumbo-Limbo-Baum - Bursera simuraba. Die Mayas haben seinen Saft gegen Mückenstiche eingesetzt.«
Sie wandte sich zu Don Alfonso um. »Lassen Sie uns hin-fahren und etwas von dem Zeug sammeln.«
Don Alfonso nahm die Pfeife aus dem Mund. »Mein Großvater hat den Saft dieses Gewächses immer gesammelt. Wir nennen sie Lucawa.« Er musterte Sally mit neuem Respekt.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Curandera sind.«
»Bin ich eigentlich auch nicht«, sagte Sally. »Ich habe aber in meiner Zeit auf dem College eine gewisse Zeit im Norden verbracht und bei den Mayas gelebt. Ich habe ihre Medizin studiert. Ich bin Ethnopharmakologin.«
»Ethnopharmakologin? Das klingt nach einem sehr bedeu-tenden Beruf für eine Frau.«
Sally runzelte die Stirn. »In unserer Zivilisation können Frauen das Gleiche tun wie Männer. Und umgekehrt.«
Don Alfonsos Brauen zuckten hoch. »Das glaube ich nicht.«
»Es stimmt aber«, sagte Sally trotzig.
»Gehen die Frauen in Amerika auf die Jagd - und die Männer kriegen die Kinder?«
»Das habe ich doch nicht gemeint.«
Don Alfonso schob sich das Mundstück der Pfeife mit einem triumphierenden Lächeln zwischen die Zähne. Er hatte eindeutig gewonnen. Er zwinkerte Tom übertrieben zu.
Sally warf Tom einen Blick zu.
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